Im Reich der Halbtoten

Die Bayerische Staatsoper setzt mit «Les Vêpres siciliennes» ihren Verdi-Zyklus fort. Die altbekannten Probleme des Hauses im italienischen Repertoire treten klarer denn je zu Tage.

Marco Frei, München
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Todessüchtiges Spektakel: Szene aus Giuseppe Verdis «Les Vêpres siciliennes» in München. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Todessüchtiges Spektakel: Szene aus Giuseppe Verdis «Les Vêpres siciliennes» in München. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Manche Opernhäuser hecheln dem vermeintlichen Geschmack eines jüngeren Publikums hinterher, um «relevant» zu sein. Sie sind eifrig bemüht, ein Musiktheater in «zeitgemässer Form» zu präsentieren. Allzu oft bleibt es freilich bei einem Spiel mit Äusserlichkeiten, ohne den Gehalt in den Fokus zu rücken. Gerade hierin läge jedoch Relevanz verborgen. Durch äussere Form allein lässt sie sich nämlich nicht erzeugen, sondern vor allem durch das konzise Ergründen von Opernstoffen: ein konsequentes Schärfen des Heute im Gestern.

An der Bayerischen Staatsoper macht sich diese Haltung leider rar. Oftmals wird inszenatorisch ein gewaltiger Aufwand betrieben, der am Ende allerdings über die reine Bebilderung kaum hinauskommt. Auch scheint es, als misstraue man am Münchner Nationaltheater dem Intellekt, obwohl Sinn und Sinnlichkeit zusammengehören. Mit seiner Neuinszenierung von Giuseppe Verdis «Les Vêpres siciliennes» ist nun auch der Regisseur Antú Romero Nunes in die Münchner «Deko-Falle» getappt, um sich zugleich betont «jung» zu gerieren.

Universelle Botschaft?

Der 34 Jahre alte, vielgelobte Theatermacher sieht zwischen Verdis Fünfakter von 1855 und «Star Wars» eine Verbindung. Hier wie dort sei alles miteinander verstrickt, das Politische und das Persönliche, erklärte Nunes auf einer Einführungsmatinee. Leider schafft es Nunes nicht, diese beiden Ebenen jeweils für sich klug durchzuführen und miteinander zu verbinden. Dabei passt dieser Opernstoff eigentlich perfekt zu der emotionalen und politischen Bühnensprache von Nunes.

Vor dem Hintergrund des blutigen Volksaufstandes in Palermo von 1282 gegen die französischen Besatzer entwickelt Verdi drei konfliktreiche persönliche Beziehungen. Da ist die Liebe zwischen der sizilianischen Herzogin Hélène und dem jungen Henri: Sie erfährt einen Dämpfer, als Henri herausfindet, dass er der Sohn des grausamen französischen Gouverneurs Montfort ist. Damit wird er für die Aufständischen zu einem Verräter, vor allem für den Anführer Procida.

Für Nunes sind alle Personen in dieser Oper durchwegs Halbtote, was die Ausstattung von Victoria Behr unterstreicht. In dieser Lesart mutieren die Sizilianer zu Halbtoten, weil sie sich unter der Besatzung nicht frei ausleben können. Die Franzosen sind ihrerseits Todgeweihte, weil die von ihnen gesäte Unfreiheit und rohe Gewalt auf sie selbst zurückfallen wird. Hierin erkennt Nunes eine zentrale, universell gültige Botschaft der Oper. Deswegen springt zur Ouvertüre ein Tänzer der Sol Dance Company über die Bühne, der bald eine Schwimmweste trägt.

Gläserner Käfig

Konflikte und Flüchtlinge: Nunes jongliert mit Assoziationen, die nicht durchgeführt werden. Sie werden allenfalls ausgestellt, in einer Szenerie, die Matthias Koch düster und karg entworfen hat. Mit grossen Vorhängen wird gearbeitet, sonst aber sind die Figuren auf sich selbst zurückgeworfen. Diese «Probenbühnen-Atmosphäre» ist ein bekanntes Merkmal von Nunes, hier aber bleibt das Mittel Selbstzweck: weil die Reduktion nicht für eine vielschichtige Personenführung genutzt wird.

Das gilt selbst für den spannenden Vater-Sohn-Konflikt. Er beschränkt sich auf eine Vitrine, in der die Mutter Henris steckt. Sie ist ganz in Weiss gekleidet, und mit ihrem Heiligenschein wirkt sie wie die Santa Rosalia, die Schutzpatronin Palermos. Zunächst ist die Vitrine mit Wasser gefüllt, doch sobald die Flüssigkeit herausgelaufen ist, beginnt sich die «Mamma Madonna» wild zu bewegen. Sie will ihren gläsernen Käfig verlassen, was ihr nicht gelingt. Das ist zwar effektvoll, bleibt aber als Idee ziemlich dünn.

Noch mehr Tote: Rachel Willis-Sörensen als Hélène in Giuseppe Verdis «Les Vêpres siciliennes». (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Noch mehr Tote: Rachel Willis-Sörensen als Hélène in Giuseppe Verdis «Les Vêpres siciliennes». (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Noch dünner ist die Klanginstallation, die vom vierten zum fünften Akt überleitet. Sie wurde vom Team Nick & Clemens Prokop aus Rosenheim ausgetüftelt, mit denen bereits Kent Nagano gearbeitet hat. Sie verfremdet Motive von Verdi, samt Techno-Sound und Elektroakustik. In der Choreografie von Dustin Klein bewegen sich dazu Tänzer, die einer futuristisch-surrealen Performance aus der frühen Moderne entsprungen scheinen. Das alles möchte jung und frech wirken, entwickelt aber keinerlei Relevanz: schon gar nicht im Kontext der Inszenierung.

Es ist fraglos löblich, dass sich Nunes grundsätzlich die Frage stellt, wie die Balletteinlagen in diesem ersten Werk Verdis für die Grand Opéra in Paris in eine moderne Tanzsprache übersetzt werden können. Allerdings wäre es an dieser Stelle notwendig gewesen, die Andeutungen in der Inszenierung audiovisuell und choreografisch zu bündeln. Stattdessen wird sinnentleert gehopst und gegroovt: ein Fremdkörper, der die Erzählung nicht trägt, sondern behindert.

Baustelle Italien

Unter der Leitung von Omer Meir Wellber konnte auch das Bayerische Staatsorchester dieser Regie keine Tiefenschärfe schenken. An der Premiere gab sich Wellbers Verdi allzu vordergründig und effektreich, bisweilen gar brachial und übersteuert, womit die verdüsterte, vielfach raue und ausgebeint karge Instrumentation ihre ganz besondere Atmosphäre selten entfalten konnte. Das ging nicht zuletzt zulasten des Gesangs, wobei der Tenor Bryan Hymel als Henri besonders zu kämpfen hatte. Bis zum fünften Akt sang er an der Premiere tapfer gegen das aufdonnernde Orchester an, um schliesslich von Leonardo Caimi stimmlich ersetzt zu werden.

Auch Rachel Willis-Sörensen kam als Hélène nur bedingt gegen die akustische Übermacht an. Ihren wohltuend unforcierten, abgedunkelten Gesang hat Wellber nicht genutzt. Mit Erwin Schrott setzt die Bayerische Staatsoper zudem auf einen Glamour-Star, allerdings blieb sein Procida matt und uninteressant. So war es vor allem George Petean, der aus der Partie des Montfort ein vielschichtiges Porträt zauberte. Mit differenzierter, agiler Klanglichkeit liess er den grausamen Massenschlächter zugleich gebrochen und verwundet erscheinen. In München, der angeblich «nördlichsten Stadt Italiens», bleibt Verdi eine Baustelle.