Ein kleiner Junge, die orange Rettungsweste noch um den Hals geschnürt, taumelt durch eine schwarze Einöde. Ist es ein Flüchtling? Sind wir am Strand vom Lampedusa? Oder irgendwo in Mexico am Dia de Muertos? Die Bayerische Staatsoper hat Giuseppe Verdis Les Vêpres siciliennes erstmals im französischen Original inszeniert und mit einem technolastigen Tanz der Toten für nicht nur eine Überraschung im Publikum gesorgt.

Die Handlung, angelehnt an den Volksaufstand in Palermo 1282, ist recht schnell erzählt: Sizilien leidet unter der französischen Okkupation. Eine Widerstandsgruppe, angeführt von der Herzogin Hélène, dem Arzt Procida und dem Waisenkind Henri, will den lokalen Gouverneur Guy de Montfort stürzen. Doch als Henri erfährt, dass er der Sohn Montforts ist, vereitelt dieser den geplanten Anschlag, was seine Genossen in den Kerker bringt. Monfort zeigt sich voller neugewonner Vatergefühle versöhnlich und so sollen Hélène und Henri – als Zeichen der Sizilianisch-Französischen Versöhnung – heiraten. Dank einer geheimen Waffenlieferung nutzt Procida die Hochzeit zum Aufstand und am Ende sind alle tot. Kein schönes Ende.

Entsprechend blicken fahle Gesichter mit leeren Augenhöhlen das Publikum in zerschlissenen Kleidern und grotesken Fratzen an. Wie in einen großen Leichensack hüllt Antú Romero Nunes in seiner Inszenierung das gesamte Ensemble in eine schwarze Plastikplane ein. Wer seinen Guillaume Tell 2014 gesehen hat, für den sind die aus Licht und Nebel erzeugten Raumeffekte sicher keine Neuheit. An ihrer imposanten Wirkung haben sie deswegen trotzdem nichts verloren. Palermo, Paris oder Aleppo – der Regisseur überließ es ganz dem Betrachter, wo er die desolate Landschaft des Grauens verorten möchte. Der ideenschwangere Leere war nicht immer ganz förderlich für die Sänger im mittleren Bühnenraum, doch Verdis Vêpres wirkt dadurch angenehm zeitlos, wenngleich ein wenig statisch und leblos.

Manche Entscheidungen Nunes können freilich auch in Frage gestellt werden. Hat es der Handlung wirklich weitere Tiefe verliehen, Monforts einstige Mätresse (und Henris Mutter) im vierten Akt in Formaldehyd konserviert auf der Bühne, einem Marienaltar gleich, zu platzieren? Mussten acht Jungfrauen wirklich die französischen Soldaten, schön der Reihe nach, oral befriedigen? Vielleicht blieb aber genau deswegen beim Publikum die wohl wichtigste Pointe des Abends eindrücklich zurück: Krieg ist abscheulich und unerbittlich und macht vor nichts und niemandem halt.

Mit diesem düsteren Vielklang der Grausamkeit geht Nunes nicht sparsam um, sondern bügelt grobflächig über jegliche Emotion und jegliches Regen der Hoffnung hinweg. Selbst die Balletteinlage der Grand Opéra, oftmals vollständig gestrichen, entgeht seinem kräftig schwarzen Pinselstrich nicht. Acht Nachtmahre, wüste manieristische Fantasiegestalten ohne Form und Anker, tanzen zu Technoklängen und nur schlaglichtartigen Verdizitaten im Garten der Lüste. Fast scheint es so, als wolle Nunes den Albtraum illustrieren, den traditionsverbundene Fans des italienischen Komponisten in diesem Moment durchleben mögen – und auch mit einzelnen Pfiffen begleiteten. Mit etwas objektivem Abstand gelingt hier allerdings ein durchaus stimmiges und abwechslungsreiches Intermezzo aus der Traumwelt des Kerker, in dem die Aufständischen inhaftiert sind.

Nur einen goldenen Lichtblick lässt Nunes Inszenierung zu. Sie trägt den Namen Procida. Wie der leibhaftig gewordene Heilige aus einem italienischen Reliquienschrein, wie ein König der Toten stolziert der Arzt siegessicher im feinbestickten goldenen Brokatrock durch das Meer der halbtoten Sizilianer. Schlussendlich kann er seinen treuen Gefolgsleuten nur den Tod verkünden, und nicht die ersehnte Rettung der Heimat, doch bis dahin nutze Erwin Schrott jeden einzelnen Takt um mit unglaublicher martialischer Stärke sein Können zur Schau zu stellen. Ein Potentat mit klarem, düsteren Bass, wie man ihn sich besser kaum vorstellen könnte.

Auch Rachel Willis-Sørensen konnte als Hélène eindrucksvoll zeigen, was eigentlich in Verdis Werk steckt. Mit einem abgedunkeltem Sopran und durchaus auch dramatischem Timbre sang sie in jeder Lage sicher nicht nur Henri, sondern ein bisschen auch das Publikum um den Verstand. Die leere Bühne konnte aber selbst sie leider nicht immer füllen. George Petean als Guy de Monfort hatte diese stimmliche Kraft, aber nicht unbedingt die großen Emotionen. Gleichwohl schaffte er es, den Zwiespalt seiner Rolle zwischen seelenlosem Massenmörder und verzweifeltem Vater mit seinem angenehmen Bariton zu repräsentieren.

An keiner Stelle zu überhören, rundete Omer Meir Wellber den Abend mit einem recht analytischen, durchaus flotten Dirigat ab. Gewaltig ließ er das Orchester aufbrausen, erzeugte überlegene Verdi-Momente und sparte kein bisschen mit großflächigen Effekten. Fast wirkte es so, als wollte er das Bayerische Staatsorchester am Massaker auf der Bühne teilhaben lassen wollen – ganz im Einklang mit der Inszenierung.

Große Erwartung hatte das Publikum sicher auch an Bryan Hymel. Sichtlich angeschlagen, von Anfang an recht eng, sang er in der Rolle als Henri tapfer und mit ausreichend Schmelz bis zum vierten Akt gegen das Orchester an. Bereits während der gesamten Vorführung von Hustern geplagt, musste im fünften Akt Leonardo Caimi von der Seitenbühne für Hymel einspringen. Ungläubiges Getuschel aus dem Publikum nahmen den dramatischen letzten Minuten leider so den nachhaltigen Eindruck eines ansonst tollen Abends.

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