Kampf um das nackte Überleben

Skandalumwittert im Jahr 1968, jetzt erschreckend gegenwärtig: Hans Werner Henzes «Floss der Medusa» wird in der Lesart von Romeo Castellucci und Ingo Metzmacher zum Triumph.

Marion Ammicht, Amsterdam
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Nur der Mond schaut zu: Bo Skovhus (Mitte) als schiffbrüchiger Anführer und die Chöre der Amsterdamer Oper in Hans Werner Henzes «Floss der Medusa». (Bild: Monika Rittershaus / DNO)

Nur der Mond schaut zu: Bo Skovhus (Mitte) als schiffbrüchiger Anführer und die Chöre der Amsterdamer Oper in Hans Werner Henzes «Floss der Medusa». (Bild: Monika Rittershaus / DNO)

Der Boden schwankt, und die Begeisterung schmerzt. Ovationen gibt es am Ende für Romeo Castelluccis und Ingo Metzmachers Interpretation von Hans Werner Henzes Oratorium «Das Floss der Medusa» an der Oper Amsterdam. Kurz zuvor sind auf einer riesigen Bühnenleinwand die Namen der Chormitglieder vorübergezogen, die während der vergangenen achtzig Minuten im Stück von der Seite der Lebenden auf die der Toten gewechselt sind: mit Geburts- und Sterbedatum – am Premierentag. Während dieser achtzig Minuten sind wir mit ihnen auf hoher See getrieben, in der Einsamkeit der Nacht, in der Hitze des Tages, unter und über Wasser, lebensgefährlich umtost und zart wellenumkringelt.

Die Euphorie im Zuschauerraum und die strahlenden Gesichter auf der Bühne der Niederländischen Nationaloper fühlen sich merkwürdig an, ja wie ein Paradox – nachdem einem diese Geschichte derart in Mark und Magen gefahren ist. Diese real dokumentierte Geschichte von 154 ausgesetzten Schiffbrüchigen der Fregatte «Medusa» und ihrem Überlebenskampf aus dem Jahr 1816, die Henzes «Oratorio volgare e militare» zugrunde liegt. Und die an diesem Abend eine Geschichte der Bilder ist, die La Mort, Henzes weibliche Todesfigur, mit ihrer Kamera reproduziert.

Szenische Oratorienskulptur

Die Geschichte der «Vielzuvielen», wie es bei Henze heisst. Die Geschichte all der Nichtprivilegierten, die bis heute Tag für Tag namenlos auf provisorischen Gefährten im Mittelmeer ertrinken. Und deren Bilder uns fatalerweise immer auch das wohlige Gefühl vermitteln, nicht an ihrer Stelle sein zu müssen. Ein Gefühl, das schon Henzes Musik immer wieder stört, die mit ihren vielen verschiedenen Stilen und Reihentechniken selbst wie ein lose geschichtetes Floss daherkommt. Beispielsweise wenn die Bläsergruppe, angeleitet von dem poetisch-stimmgewaltigen Bo Skovhus in der Rolle des schiffbrüchigen Anführers Jean-Charles, dem Atem der verzweifelt um ihr Leben Kämpfenden nachspürt; oder wenn die Streicher zu Lenneke Ruitens schnörkellosem Sirenengesang als La Mort den Toten verführerisch Erlösung versprechen.

Wie plastisch, vielfarbig und wirkmächtig diese Musik tatsächlich ist, deren Hamburger Uraufführung im Dezember vor fünfzig Jahren im ideologischen Tumult der 68er Bewegung unterging, zeigen Metzmacher und Castellucci vor und hinter der Filmleinwand. Sie markiert gleichermassen die Grenze zwischen Tod und Leben, Festland und hoher See, Bühne und Zuschauerraum. Auch die anderen Akteure fügen sich stimmig in diese szenische Oratorienskulptur: Dale Duesing, der als Erzähler mit dem mythischen Namen Charon durch die Geschichte und vom Leben ins Totenreich führt; das von Metzmacher transparent und klangfarbenreich in Szene gesetzte Nederlands Philharmonisch Orkest; und nicht zuletzt die ausdrucksstarken Chorkollektive von Oper, Cappella Amsterdam und dem Neuen Amsterdamer Kinder- und Jugendchor.

Mamadou Ndiaye aus Senegal, wohin die «Medusa» 1816 in kolonialer Eroberungsabsicht aufgebrochen war, ohne je dort anzukommen, fungiert in Castelluccis Videoinstallation als zeitgenössisches Alter Ego von Anführer Jean-Charles. 24 Stunden lang, auf vier Tage verteilt, hat das Team den Afrikaner auf hoher See gefilmt, um zu studieren, wie er Wetter und Wellen, Hunger und Delirium zu trotzen versucht. Entstanden ist die intime Studie eines Körpers, der im Meer treibend um sein nacktes Überleben kämpft.

Immer wieder wechselt die Kamera von Detail- und Nahaufnahmen in weitwinklige Panoramabilder. In rasender Drohnenfahrt und bei schaukelndem Wellengang geht es ins Subjektive und lässt uns als Zuschauer selbst fast seekrank, auf jeden Fall aber immer empfänglicher werden für das, was sich in der finsteren Unendlichkeit hinter der Leinwand bloss schemenhaft abzeichnet: das Auf und Ab der im Meer wogenden Köpfe des Chores und die abstrakten Kreisumrisse des Mondes, der gleissend über der finsteren Todesszenerie leuchtet. Währenddessen flirren und surren die Streicher im Totenreich zu den italienischen Versen aus Dantes «Inferno», und die Bläser stemmen sich atemlos gegen den nahenden Tod.

Perspektivwechsel

Es ist die entscheidende Leistung dieser Inszenierung, dass sie nicht nur klug die raffinierte Werkstruktur offenlegt, sondern mit einfachen, stimmigen Mitteln auch grosse Emotionen auslöst: die Hand in Grossaufnahme, die den Sterbenden ins Meer fallen lässt; die Identifikationsfigur Mamadou Ndiaye, die irgendwann stellvertretend für uns tot im Wasser treibt; schliesslich das Meer selbst, das wie ein kräuselnder Wolkenteppich in den Himmel auffährt und auf der Leinwand eine fahle, türkisfarbene Brühe übrig lässt, in der die «Vielzuvielen» ein namenlos-schreckliches Ende gefunden haben.

Was bleibt, ist der tiefe Schmerz über die Freude an einem grossartigen Kunstwerk, das seine überwältigende Kraft gleichwohl aus einem Skandalon bezieht: nämlich, dass die einen ertrinken und die anderen dabei zusehen. So ist es erst recht ein Schock – der heilsame Schock des Perspektivwechsels –, als La Mort, in ihrem gelben Friesennerz sonnengleich leuchtend im finsteren Todesreich, plötzlich die Kamera in den Zuschauerraum richtet, also auf uns. Und plötzlich sind wir auf der Leinwand aus unseren vermeintlich sicheren Opernsesseln verschwunden.