Der gütige Herrscher ist ein Egoist

Mozarts «La clemenza di Tito» hat seit einer revolutionären Neudeutung an den Salzburger Festspielen 2017 Konjunktur: Die Opéra de Lausanne zeigt nun eine eigene Sicht auf dieses späte Meisterwerk.

Thomas Schacher, Lausanne
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Welches Bild vor der Geschichte ist das richtige? Szene aus Mozarts «La clemenza di Tito» an der Opéra de Lausanne. (Bild: Alan Humerose / Opéra de Lausanne)

Welches Bild vor der Geschichte ist das richtige? Szene aus Mozarts «La clemenza di Tito» an der Opéra de Lausanne. (Bild: Alan Humerose / Opéra de Lausanne)

Die Opera seria war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Auslaufmodell. Das hat auch Mozart gespürt. Seine grössten Erfolge erreichte er im Singspiel und in der Opera buffa. Dass der Komponist im Jahr 1791 die Arbeit an seiner «Zauberflöte» unterbrach, um mit «La clemenza di Tito» nochmals eine Opera seria zu schreiben, erstaunt deshalb zunächst; die Tatsache erklärt sich aber aus der Entstehungsgeschichte: Mozart hatte den Auftrag bekommen, zur Krönung Kaiser Leopolds II. zum König von Böhmen eine Festoper zu komponieren. Teil des Auftrags war auch das Libretto von Metastasio, das vorher bereits etliche andere Komponisten als Opera seria vertont hatten.

Die Milde des römischen Kaisers Titus ist also auf Leopold gemünzt, sie ist uneingeschränktes Herrscherlob. Der Tito in Mozarts Oper will für sein Volk nur das Beste. Als ihm der Senat einen Tempel bauen will, verwendet er das Geld lieber für die Opfer des Vesuv-Ausbruchs. Als die Römer seine Heirat mit der Ausländerin Berenice nicht goutieren, gedenkt er, Servilia, die Schwester seines Freundes Sesto, zu ehelichen. Als er jedoch merkt, dass diese bereits mit Annio liiert ist, gibt er das edelmütige Vorhaben auf. Nun fällt seine Wahl auf Vitellia, die Tochter des entthronten Kaisers Vitellus. Damit könnte Tito ein Verbrechen seines Vaters wiedergutmachen. Doch dafür ist es plötzlich zu spät, denn die bisher verachtete Vitellia ist mit der Rolle als dritte Wahl gar nicht einverstanden. Was soll man bloss von diesem «Gutmenschen» Tito halten?

Gescheiterte Politik

Der italienische Regisseur Fabio Ceresa, der die Neuproduktion von «La clemenza di Tito» an der Opéra de Lausanne inszeniert, sieht in Tito nicht nur den Altruisten. Sein Tito will, eigentlich ganz egoistisch, einen Platz in der Geschichte erlangen: Seine Güte soll der Nachwelt in Erinnerung bleiben. Der Ausstatter Gary McCann hat dafür das treffende Symbol des Standbildes geschaffen. Bereits während der Ouvertüre wird der Guss einer überlebensgrossen Bronzestatue Titos vollendet, die sich später in die Galerie der übrigen Kaiserstatuen einfügt. An die römische Kaiserzeit erinnert auch das Bühnenbild, das ein repräsentatives Atrium darstellt. Ein Kreisbau in der Mitte des Raumes dient bald als Thermalbad, bald als Plattform für einen Modellbau der Stadt Rom und am Schluss, in Schieflage, als Symbol für die gescheiterte Politik des Kaisers.

Paolo Fanale verkörpert die Titelrolle anfänglich etwas blass, gewinnt aber zusehends an Statur und wächst im Schlussmonolog regelrecht über sich hinaus. Sein Tenor wirkt in den Rezitativen geschmeidig, in den Arien und Duetten differenziert, unangestrengt und klangschön. Eine Schlüsselrolle spielt Titos Gegenspielerin Vitellia. Die junge Sopranistin Salome Jicia spielt den vielschichtigen Charakter dieser Strippenzieherin noch nicht aus. Bei einer anderen Besetzung wäre Vitellia, die ihren devoten Lover Sesto zum Mord an Tito aufstachelt, die Hauptfigur. Stimmlich macht die Sopranistin mit ihrem grossen Ambitus und ihren Koloraturen eine gute Figur.

Sesto ist mit dem Countertenor Yuriy Mynenko blendend besetzt. Sein Organ klingt in allen Registern ausgezeichnet, als Charakter trägt er seine Zerrissenheit zwischen der Hörigkeit zu Vitellia und der Loyalität zu Titus nach aussen. Als Hosenrolle ist wiederum der Annio mit Lamia Beuque besetzt. Die Mezzosopranistin spielt die buffonesken Züge in dieser sonst so strengen Opera seria wohltuend aus. Die Servilia von Sylvia Schwartz, die kurzfristig für die erkrankte Estelle Poscio eingesprungen ist, weiss nicht so recht, ob sie auf der Buffo- oder der Seria-Schiene fahren will. Bleibt noch der Hauptmann Publio, dem Daniel Golossov mit seinem profunden Bass den nötigen Respekt verschafft.

Philosophie des Verzeihens

Mit Diego Fasolis steht den Solisten, dem Opernchor und dem Orchester ein erfahrener Operndirigent vor, mit dem das Haus in der Vergangenheit schon etliche Male erfolgreich zusammengearbeitet hat. Fasolis, der mit seinem Originalklang-Ensemble I Barocchisti bekannt geworden ist, versteht es ausgezeichnet, auch mit einem Allround-Orchester wie dem Orchestre de Chambre de Lausanne so zu arbeiten, dass Mozarts Partitur in frischem Glanz erstrahlt. Fasolis' Interpretation ist nicht revolutionär, sie sucht nicht um jeden Preis den Konflikt; aber sie ist feinfühlig, farbig und abwechslungsreich.

Eine Nummer, die in dieser Hinsicht im Gedächtnis haften bleibt, ist die Arie «Parto, parto», in der Sesto von Vitellia Abschied nimmt, um den Mord an Tito auszuführen. Wie schön verzahnt sich da die Vokalstimme mit der Soloklarinette, und wie überraschend geht da die Lethargie des Adagio über in die Getriebenheit des Allegro-Teils. Auch Fasolis kann die grundsätzliche dramaturgische Schwäche dieser Mozart-Oper nicht wegdirigieren: Im zweiten Akt passiert, nachdem der Anschlag auf Tito missglückt ist, praktisch nichts mehr. Da bleibt dem Kaiser reichlich Zeit, über seine Philosophie des Verzeihens nachzudenken. Das aber gelingt ihm, beispielsweise in der Arie «Se all'impero, amici Dei», ausgezeichnet.