THEATER ST.GALLEN: Die Frau auf dem Sockel

Exakt 50 Jahre nach der Einweihung des Hauses am Stadtpark hat ein neuer «Fidelio» Premiere. Die Inszenierung setzt der Hauptfigur ein Denkmal; der Puls schlägt eher in der Musik.

Bettina Kugler
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Tatort Staatsgefängnis: Don Pizarro (Roman Trekel), Florestan (Norbert Ernst) und seine treue Leonore (Jacquelyn Wagner). (Bild: Toni Suter)

Tatort Staatsgefängnis: Don Pizarro (Roman Trekel), Florestan (Norbert Ernst) und seine treue Leonore (Jacquelyn Wagner). (Bild: Toni Suter)

Bettina Kugler

bettina.kugler@tagblatt.ch

Die Freude hat am Premierenabend, auf den Tag fünfzig Jahre nach der feierlichen Eröffnung des Theatergebäudes, einen klaren Namen. Der Jubel gilt dem Dreispartenhaus selbst: der künstlerischen Vielfalt und Qualität, die in den vergangenen fünf Jahrzehnten das Theater St. Gallen mit Leben erfüllt und über die Stadt hinaus ins Gespräch gebracht hat. Zugleich schwang in den kurzen Festansprachen von Urs Rüegsegger und Martin Klöti Zukunftsfreude mit, knapp zwei Wochen nach dem deutlichen Abstimmungs-Ja zur Theatersanierung.

Dann aber ist für eine Weile Schluss mit Gejubel. Bis zur rauschhaft besungenen «namenlosen Freude» über die Befreiung Florestans in allerletzter Minute steigt Beethovens einzige Oper «Fidelio» zwei Stunden lang immer tiefer hinab in die Hölle.

Salbungsvolle Dialoge, fein gezeichnete Musik

Ein trostloser Ort ist der Kerker auch in der Neuproduktion unter der Regie von Jan Schmidt-Garre, obwohl Bühnenbildner Nikolaus Webern auf Gefängnisarchitektur verzichtet hat, einmal abgesehen von der Treppe im 2. Akt. Keine Spur von «ruhiger, stiller Häuslichkeit», wie sie Marzelline (Tatjana Schneider) mit ihrem unschuldig-liebreizenden Sopran Fidelio/Leonore in Aussicht stellt. Dabei ist diese von Anfang an sichtbar eine Frau, kein verkleideter Jüngling (Kostüme: Yan Tax). Die sich nach hinten perspektivisch verengenden grauen Seitenwände sind schiebbar und verwandeln die Bühne zwischendurch in labyrinthische Gänge. Zweimal rückt die Freiheit in den Blick: ein Baum, in Frühlingslicht getaucht. Das bringt Dramatik ins ansonsten eher statische, im Spiel mit den Kostümen auf eine symbolische Ebene gerückte Bühnengeschehen; es unterstreicht, dass hier ein unberechenbarer Tyrann das Sagen hat.

Wie alle Sänger der Premiere feiert der gastierende Bariton Roman Trekel sein Rollendébut als Don Pizarro. In der Tiefe fehlt ihm an lauten Orchesterstellen hin und wieder die schneidende Durchschlagkraft, doch hätte er mehr Applaus verdient für sein überragendes Spiel und das untadelige Bühnendeutsch in den gesprochenen Dialogen. Bei den Kollegen klingen sie entweder unterkühlt, salbungsvoll oder unfreiwillig komisch – kein Wunder, dass viele Regisseure sie angesichts internationaler Besetzungen gänzlich streichen.

Geschätzt die Hälfte ihrer kräftezehrenden Dauerpräsenz auf der Bühne verbringt Leonore, in der Premiere verkörpert von Jacquelyn Wagner, in statuenhafter Erstarrung auf einem Podest in der Bühnenmitte. Sängerisch gehört die Amerikanerin dort tatsächlich hin; sie leistet Grosses in der anspruchsvollen Partie und überragt Norbert Ernst als Florestan nicht nur physisch. Insgesamt überzeugt die Besetzung, auch mit Wojtek Gierlach (Rocco), Riccardo Botta (Jaquino) und Martin Summer (Don Fernando), doch plastisch werden die Rollen kaum. Das Sinfonieorchester St. Gallen unter Otto Tausk übernimmt die Ausdifferenzierung und Feinzeichnung, hin und wieder wackelt es noch zwischen Bühne und Graben. Kraftvoll spielt und singt der Chor (Einstudierung: Michael Vogel) seine zwei grossen Auftritte aus.

Die Regie zielt auf den utopischen Überschuss in der Musik, wirkt aber recht künstlich und clean. Umso irritierender, wenn die Gefangenen beim Freigang Marzelline zu Leibe rücken oder das glücklich vereinte Paar zur «namenlosen Freude» Don Pizarro fast zu Tode trampelt.

Der Premierenapplaus fiel dennoch stürmisch aus: Er tönte nach genug Gesprächsstoff für die Premierenfeier – und weitere fünfzig Jahre zeitgemässes Musiktheater.