Der Gral auf dem Nachttisch

An den Osterfestspielen Baden-Baden glänzen die Berliner Philharmoniker zum letzten Mal unter ihrem Chefdirigenten Simon Rattle. Dieter Dorns Sicht auf Wagners «Parsifal» bleibt dagegen blutleer.

Christian Wildhagen, Baden-Baden
Drucken
Flower-Power: Parsifal (Stephen Gould) bei den Blumenmädchen. (Bild: Monika Rittershaus / Festspielhaus Baden-Baden)

Flower-Power: Parsifal (Stephen Gould) bei den Blumenmädchen. (Bild: Monika Rittershaus / Festspielhaus Baden-Baden)

Ein Gespenst geht um in Baden-Baden – das Gespenst einer Inszenierung von Richard Wagners «Parsifal». Vor bald zwanzig Jahren hatte Dieter Dorn, der langjährige Intendant der Münchner Kammerspiele und des Bayerischen Staatsschauspiels, schon einmal das «Bühnenweihfestspiel» inszenieren sollen: damals, um damit der Bühne des frisch sanierten Teatro Real in Madrid die gehörige Weihe zu verschaffen. Doch das mit Lorin Maazel und Plácido Domingo denkbar prominent besetzte Ereignis zerschlug sich.

Nun kam Dorn, dessen intensive Auseinandersetzung mit Wagner in der Zwischenzeit unter anderem dem Genfer Grand Théâtre einen kompletten «Ring»-Zyklus beschert hat, beim Opus ultimum des Meisters doch noch zum Zuge. Und zwar an ebenfalls prominenter Stelle: im Rahmen der letzten Osterfestspiele, die Simon Rattle, der scheidende Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, mit seinem Elite-Orchester im Festspielhaus Baden-Baden veranstaltet. Allerdings belohnt die Produktion das lange Warten kaum.

Zu wenig

Wenn es für Dorns Inszenierung je ein klares Konzept gab, dann ist es über die Jahre leider gründlich verwässert worden. Hilfreiche Texte im Magazin des Festspielhauses öffnen dem Betrachter immerhin die Augen für eine Grundidee, die man als Wiederkehr des Gleichen umschreiben könnte. In diesem Kreislauf der Zeit sind die Vorgänge der beiden Aussenakte spiegelbildlich aufeinander bezogen. In vieler Hinsicht, wenn auch mit bedeutsamen Abweichungen, wiederholt sich die Geschichte, und man ist versucht, ein zweites Mal Karl Marx zu paraphrasieren: Einmal erlebt man Wagners synkretistische Religionsparabel hier als Mysterienspiel, das andere Mal als Farce.

Freilich hätte man Dorn damit bereits viel zu viel an Deutungswillen unterstellt. Wie bei seinem Genfer «Ring», der sich immun gab gegenüber Ansätzen szenischen Interpretierens wie gegenüber der befrachteten Rezeptionsgeschichte der Tetralogie, verweigert Dorn diesem in höchstem Masse deutungsbedürftigen Werk jede Interpretation, die über das – gekonnte – szenische Arrangieren hinausgeht. Das erregt nach der gut fünfstündigen Premiere am Samstag denn doch Widerspruch, ja lauten Unmut im Publikum – und es ist für den «Parsifal», der gerade in den vergangenen Jahren eine Vielzahl tiefschürfender Deutungen erfahren hat, in der Tat zu wenig.

Eine dieser intelligenten Lesarten war soeben wieder am Opernhaus Zürich zu sehen, obendrein in einer ausgezeichneten Besetzung, die nicht im Mindesten hinter dem Badener Ensemble zurückstand: Claus Guths Zürcher Inszenierung von 2011 siedelt das Geschehen in einem endzeitlichen «Zauberberg»-Sanatorium an und stellt, ohne Wagners Weihespiel Gewalt anzutun, verblüffende Parallelen zu Thomas Manns Epochenroman heraus. Von solch erhellenden Seitenblicken sind Dorn und seine Bühnenbildnerin Magdalena Gut weit entfernt.

Gut stellt die riesige Bühne des Festspielhauses stattdessen voll mit Holzgerüsten, die den Charme von Probenkulissen verströmen. Diese werden unablässig von Heerscharen dienstbarer Gralsgeister hin und her bewegt, bei der Abendmahlsszene zu einer Art improvisierter Thingstätte zusammengeschoben und im dritten Akt – Achtung, Deutung! – ein bisschen demontiert. Von Klingsors Zauberschloss im Binnenakt sieht man nur die obersten zwei Zinnenreihen, die aber weisen – Vorsicht, Fehldeutung! – eine gründlich irritierende Ähnlichkeit zu Peter Eisenmans Berliner Holocaust-Stelen auf.

Leider bleibt dies nicht der einzige Fehlgriff. Die Gralsschale wird mitsamt biederem Deckchen in einem Nachttisch verwahrt und sieht mit ihrem milchigen Glimmen aus wie die dazugehörige Schlafzimmerlampe. Die Kostüme von Monika Staykova beschwören in verwaschenen Pastellfarben irgendeinen alternativen «Look» von anno dazumal, und farblos bleibt es auch sonst, gibt es doch für den ganzen langen Abend kaum mehr als vier oder fünf Variationen von weissem Arbeitslicht (Beleuchtung: Tobias Löffler).

Blutleer

Vor dieser ermüdenden Szenerie hat es selbst Rattle schwer zu glänzen. Dabei spielen die Berliner Philharmoniker nach anfänglichen Unschärfen ihre breite Farbpalette aus und beeindrucken mit sensiblen Soli ihrer überragenden Instrumentalisten. Das harmoniert mit Rattles unspektakulärer, aber hochdifferenzierter Wagner-Sicht, die das Fliessende, gleichsam Proto-Impressionistische der Partitur und ihre klangmagische Orchestrierung herausstellt.

Diese Transparenz kommt wiederum dem erfreulich klar aus dem Text gestaltenden Philharmonia-Chor Wien und den Sängern zugute, allen voran dem überragenden Franz-Josef Selig als Gurnemanz, aber ebenso der charismatischen Ruxandra Donose bei ihrem Kundry-Debüt und dem fast überintensiven Gerald Finley als Gralskönig Amfortas. Der monochrome Parsifal von Stephen Gould und der zu wenig zwielichtige Klingsor von Evgeny Nikitin bleiben dagegen – wie so vieles bei dieser Produktion – in blutleerer Konvention stecken.

Fortsetzung der Zusammenarbeit bis 2022

Das Festspielhaus Baden-Baden und die Berliner Philharmoniker haben einen Vertrag zur Fortsetzung der Osterfestspiele unterzeichnet. Die Intendantin der Stiftung Berliner Philharmoniker Andrea Zietzschmann und Festspielhaus-Intendant Andreas Mölich-Zebhauser gaben bekannt, dass die Zusammenarbeit zunächst bis 2022 verlängert wird. Die Stiftungsvorstände der Kulturstiftung Festspielhaus Baden-Baden und der Stiftung Berliner Philharmoniker hatten die Verlängerung einstimmig befürwortet. Die Osterfestspiele mit den Berliner Philharmonikern finden seit 2013 in Baden-Baden statt. Im kommenden Festspieljahr 2019 werden Kirill Petrenko und Riccardo Muti in Baden-Baden die Konzerte der Berliner Philharmoniker leiten. Robert Wilson inszeniert Verdis Oper «Otello» neu, die musikalische Leitung hat Daniele Gatti. Kirill Petrenko, ab Herbst 2019 neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, wird ab Frühjahr 2020 auch die Opernproduktionen der Osterfestspiele leiten.