Diese Oper debattiert drängende Fragen der Gegenwart

Wer hätte das gedacht: Gaetano Donizettis «Don Pasquale» formuliert eine brennend aktuelle Sozialkritik – wie man jetzt in zwei Neuproduktionen in Stuttgart und an der Scala erfahren kann.

Marco Frei, Mailand/Stuttgart
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Wahre Schönheit verbirgt sich hinter Schleiern: Enzo Capuano (Don Pasquale) und Ana Durlovski (Norina). (Bild: Martin Sigmund / Staatsoper Stuttgart)

Wahre Schönheit verbirgt sich hinter Schleiern: Enzo Capuano (Don Pasquale) und Ana Durlovski (Norina). (Bild: Martin Sigmund / Staatsoper Stuttgart)

Der Zwischenruf war nicht zu überhören. «Maestro, troppo forte!», gellte es unmittelbar nach der Pause durch die Mailänder Scala. Demnach sollte Riccardo Chailly den «Don Pasquale» von Gaetano Donizetti bis dahin zu kraftvoll dirigiert haben. Nun gehören deftige Kommentare von jeher zum «guten Ton» in diesem Opernhaus, zumal im italienischen Repertoire; manche Besucher wähnen sich gar als «Anwälte einer echten Italianità» und gleichen darin den selbsterklärten «Wagnerianern» in Bayreuth. Freilich pflegt Chailly, der auch Leiter des Lucerne Festival Orchestra ist, tatsächlich einen zuspitzenden, direkten Zugang. Dies allerdings mit Sinn und Verstand.

Denn er besitzt zugleich ein untrügliches Gespür für formale wie klangfarbliche Strukturen, einhergehend mit differenzierter Artikulation und Phrasierung. Mit diesem Profil hat sich Chailly bereits in der Vergangenheit als aufregender Belcanto-Exeget präsentiert – so auch jetzt wieder mit dem Scala-Orchester. Dies offenbart umso mehr der Vergleich mit einer Neuproduktion desselben Werks, die kurz zuvor an der Stuttgarter Oper Premiere hatte.

Mütter und Väter

Hier ist Giuliano Carella mit dem Stuttgarter Staatsorchester um grösstmögliche Transparenz und Durchhörbarkeit bemüht. Damit schenkt er zwar den Sängern viel Raum zur Entfaltung, glättet jedoch den bissigen Humor Donizettis. Ganz anders Chailly: In Mailand wird jener unerhörte Realitätsbezug lebendig, der Donizettis Figuren zu Protagonisten einer hintergründigen Sozialstudie aus dem Geiste der Commedia dell’arte macht. Denn Chailly verhilft den durchwegs grossartigen Solisten zu einer deutlichen Zeichnung ihrer Charaktere: Ambrogio Maestri als geiziger, greiser Junggeselle Don Pasquale, Rosa Feola als impulsive Norina, René Barbera als leidenschaftlicher Neffe des Pasquale sowie Mattia Olivieri als hinterlistiger Doktor Malatesta profitieren ebenso von Chaillys geschärftem Zugriff und dem perfekt ausgesteuerten Drive wie die Inszenierung von Davide Livermore.

Mit Unterstützung von Giò Forma stellt Livermore in seinem Bühnenbild eine Welt aus, die in Trümmern liegt oder unfertig erscheint: In einem altehrwürdigen Palazzo, fast einem Visconti-Film entsprungen, haust der greise Geizkragen. Der Palazzo ist dem Verfall geweiht, und dass Don Pasquale noch Junggeselle ist, scheint der dominanten Mutter geschuldet. Sie ist nicht nur in dem Video von D-Wok zu sehen, sondern flitzt auch im Rollstuhl stumm über die Bühne: wie ein Schatten, ähnlich dem Horrorklassiker «Psycho». Die Welt der Youngster wird hingegen im Stile der 1950er Jahre abgebildet, samt dem Filmstudio Cinecittà und dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg.

Schnell wird klar, dass diese Bühnenwelten ein – wenig schmeichelhaftes – Porträt von Italien zeichnen. Allerdings muss man hinter die historisierenden Fassaden blicken, um Gegenwartsbezüge zu erkennen. Denn der einstige Glanz der italienischen Filmindustrie ist längst verblasst, und das gewaltige Erbe des Landes wird wenig verantwortungsvoll gepflegt. In dieser Lesart erinnert Don Pasquale an jenen Ministerpräsidenten Italiens, der sich gern als Cavaliere gerierte und schlüpfrige Bunga-Bunga-Partys feierte.

In dieser dekadenten Welt werden Frauen zu Objekten. Das dahinterstehende Frauenbild ist bestens bekannt, nicht zuletzt aus den bizarren Fernsehballetten, die bis heute in Italien ausgestrahlt werden. Die Moral ist hier so ausgehöhlt, dass man fast schon Mitleid mit dem Titelhelden entwickelt. Am Ende sitzt er auf einer Schaukel, wie seine Gegenspieler auch; doch während diese in den Theaterhimmel steigen, bleibt er am Boden und rudert hilflos mit den Armen. In ihrer Inszenierung des «Don Pasquale» an der Staatsoper Stuttgart gehen Noch-Intendant Jossi Wieler und Sergio Morabito genau an diesem Punkt noch einen Schritt weiter.

Soziale Sprengkraft

Hier betäubt sich der gehörnte und gebrochene Don Pasquale, um vergangenen Tagen zu frönen: einsam und verlassen. Ein Animationsfilm von Studio Seufz zeigt während der Ouvertüre den Titelhelden in jungen Jahren, wie er mit Freundin und Motorrad im Flower-Power-Look über die Lande knattert. Auch hier erscheint, wie bei Livermore, ein Schatten, allerdings in Gestalt des Vaters. Er schneidet dem zottligen Filius die Haare ab und setzt ihn in ein steriles Büro.

Enzo Capuano verlebendigt die Titelpartie denn auch mit feiner Tragikomik. Bald schlurft Ioan Hotea als Ernesto in die Szene, mit Kopfhörer und Smartphone: Der alte Pasquale erkennt in seinen Neffen schmerzhaft sich selbst in jungen Jahren. Er kann Ernesto nichts gönnen, am wenigsten die Liebe zu Norina, dargestellt von der hinreissenden Ana Durlovski. Auch sie stochert unaufhörlich in ihrem Telefonino herum, lässt sich vom durchtriebenen Malatesta von André Morsch leichtgläubig ausnutzen, und wie in Mailand sind auch in Stuttgart die Gegenspieler Pasquales am Ende keineswegs besser.

Da die Bühne von Jens Kilian und die Kostüme von Teresa Vergho auf jedwede Historisierung verzichten, wird die Intention von Donizetti in Stuttgart freilich weitaus konsequenter umgesetzt als an der Scala. Bei der Uraufführung 1843 in Paris waren nämlich die Darsteller bewusst im Stil der damaligen Gegenwart gekleidet. Damit sollte dem Publikum der Spiegel vorgehalten werden, was prompt zu Kontroversen führte. Donizetti musste schliesslich akzeptieren, dass das gesamte Ambiente stilistisch in die Vergangenheit zurückversetzt wurde, sehr zu seinem Ärger. Eines machen indes beide Inszenierungen deutlich: Donizetti führt eine Welt vor, in der Werte zu Spielbällen geworden sind und kaum mehr zählen. Genau hierin liegt eine ungeheure Sprengkraft.