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Zündstoff Liebe

Claude Eichenberger als Carmen ist die Ikone, welche die szenische Temperatur des Stücks reguliert.

«Carmen» kennen alle, auch Nicht-Opernfans. Einige Arien sind so populär, dass jeder sie mitsummen kann. Wenn die Titelfigur im ersten Akt «L'amour est un oiseau rebelle» schmettert – «Die Liebe ist ein wilder Vogel, den kein Mensch jemals zähmen kann» – und die Streicher in aufreizenden Punktierungen mit ihrer schaukelnden Begleitung anheben, dann reisst das mit.

Diese Habanera ist ein Symbol geworden für das, worum es hier geht. Um tödliche Verführung, heftige Leidenschaften, Sehnsucht. Eine Musik gefährlich wie Zündstoff, unberechenbar und explosiv. Das kann man aktuell im Stadttheater erleben: Das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Mario Venzago interpretiert hautnah, aufregend, berührend von ganz klein und intim bis zu ganz gross.

Worum gehts? Die Geschichte spielt im andalusischen Sevilla. Die Vorlage stammt von Prosper Mérimée. Im verruchten Milieu der Stadt geistern um 1820 Zigeuner, Diebe, Schmuggler und Mörder herum. Auch Soldaten und Offiziere, denen junge glutäugige Arbeiterinnen aus der Tabakfabrik den Kopf verdrehen. Und auch im Stadttheater steigt Rauch auf – in einer Videoprojektion. Das lodernde Feuer dazu brennt in der Musik. Und da ist Carmen, eine Femme fatale zwischen zwei (manchmal mehr) Männern. Das Setting war brisant. Bei der Uraufführung 1875 kam es nicht gut an. Das Pariser Publikum reagierte schockiert, die Oper fiel durch.

Ein Grund für den Flop war die neuartige Musik. Noch mehr aber die Rolle dieser Carmen. Die selbstbestimmte emanzipierte Frau war ihrer Zeit voraus. Ein Skandal und nicht tolerierbar für das Opernpublikum. Carmen ist kalt- und heissblütig und lehnt sich mutig gegen patriarchalische Strukturen auf. Ihre persönliche Freiheit ist ihr heilig. Auch in der Liebe. Sie wählt ihre Liebhaber selber aus und schickt sie zum Teufel, wenn sie sie zu langweilen beginnen. Und so frei wie sie geboren wurde, so frei will sie sterben.

DNA neu untersucht

Dass viele Regisseure die Heftigkeit der Handlung später mit der Zurschaustellung von Kitsch und Spanien-Klischees verwässert haben, tat dem Werk nicht gut. «Carmen» ist mehr als andalusisches Rüschenwirbeln, Kastagnettenklappern und Testosteron. Das zeigt auch die aktuelle Inszenierung am Stadttheater. Intendant Stephan Märki als Regisseur und Chefdirigent Mario Venzago haben keinen Aufwand gescheut, die DNA der Musik und des Librettos unter die Lupe zu nehmen. Dass die beiden bereits bei Märkis Regie-Erstling am Stadttheater («Lohengrin») als erfolgreiches Gespann zusammengearbeitet haben, kommt ihnen jetzt zugute.

Die intensive Recherche hat Material in Bizets Ur-Partitur zutage gefördert, das noch nie aufgeführt worden ist. Eine kleine Sensation also ist diese Berner «Carmen». Sie lässt eine neue «Pantomime» zwischen Morales (Carl Rumstadt) und dem Chor aufleben. Und die berühmte Habanera-Arie erklingt mit einem zusätzlichen lyrischen Mittelteil. Der Entscheid, die Rezitative (gesprochene Teile) zu streichen, kommt der Stringenz der Handlung zugute. Nur einmal in einer Schlüsselstelle verfällt Carmen in gesprochenen Text. Sie fragt José, ob er sie wirklich töten würde. Pure Rhetorik – man weiss, es kommt nicht gut.

Singende Missenklone

Nicht nur die Musik im dreistündigen Abend wird aufgebrochen, sondern auch der Bühnenraum. Mit Lichtstimmungen, Vorhängen, reflektierenden Glasscherben und Videos. Die Sängerdarsteller agieren aus dem Publikumsraum, der Chor (Einstudierung Zsolt Czetner) singt von den Galerien herunter. Und im Guckkasten konfrontieren spektakuläre Spiegelungen das Publikum mit sich selber. In den Vexierbildern vervielfacht sich die Realität – und relativiert sie. So erlebt José die ihm überlegene Carmen auch mal als Fata Morgana (Bühne und Kostüme Philipp Fürhofer).

Vieles macht die Regie richtig. Sie schürft aus dem Fundus der bekannten Oper neue Lesarten, die überzeugen. Einiges aber wirft Fragezeichen auf. Etwa die 24 Mädchen-Klone (Kinderchor der Singschule Köniz), die mit Missenkrönchen und Schärpe im 1. Akt vor dem Publikum paradieren, als wärs ein Schönheitswettbewerb. Obwohl der Chor von Anett Rest sorgfältig vorbereitet wurde, wirken die Mädchen in den geschmäcklerischen Outfits verkleidet und unpassend.

Ein dramaturgisches Experiment ist auch die Figur des Jokers. Er ist Eros und Tod, ein Spielgefährte von Carmen. Der Tänzer Winston Ricardo Arnon verleiht ihm Kraft. Er agiert als roboterhaft gestikulierender Dämon mit Silbermaske. Wie er Carmen im 3. Akt umarmt, als die Tarot-Spielkarten ihr den Tod verkünden, ist gut gemacht und ergibt Sinn: Er greift an ihr vorüber ins Leere. Der Tod hat sie, aber noch nicht ganz. Gelegentlich wünschte man sich allerdings, dieser Joker bewegte sich diskreter. Einen Moment lang denkt man darüber nach, ob ein wenig mehr «Dreck» statt poliertes Design der Optik dieser «Carmen» nicht gutgetan hätte. In der Musik sind die herben Dissonanzen und chromatischen Trübungen ja da: Wie das BSO seufzt, spottet, koloriert, kommentiert, ist eine Freude.

Die grosse Steigerung führt vom Anfang bis in die letzten finalen Todeszuckungen. Gegen das Orchester wirkt die Personenführung auf der Bühne flach. Warum wird in den Duetten frontal ins Publikum gesungen, wenn Wahnsinn und Liebesschmerz beschworen werden?

Anti-Carmen als Lichtgestalt

Wie erwartet, erweist sich Claude Eichenberger in der Rolle der Anti-Carmen als Lichtgestalt. Als moderne Protagonistin im weissen und später blutroten Hosenanzug überragt sie nicht nur durch ihre physische Präsenz alle Männer, sondern auch durch ihre wunderbare Stimme. Ihr sonorer Mezzosopran glüht, glitzert, gleisst – mal vor kühler Gleichgültigkeit, mal vor brennender Leidenschaft. Sie ist die Ikone, welche die szenische Temperatur des Stücks reguliert.

Mit stimmlicher Wärme und Natürlichkeit überzeugt auch Elissa Huber als Micaëla, sie verleiht der Gegenfigur zu Carmen Kraft und Authentizität. Don José (Xavier Moreno) betont mit tenoralem Glanz, aber darstellerisch ziemlich statisch die Wankelmütigkeit und Schwäche seiner Figur. Der Stierkämpfer Escamillo (Jordan Shanahan) dagegen mimt glaubwürdig den – auch neben der Arena – von sich überzeugten Macho.

Ein Abend voller Kontraste also. Er ist da am stärksten, wo Musik und Darstellung sich ohne Mätzchen beflügeln. Im 2. Akt, als die Kastagnetten im Orchester klappern, hebt Carmen an mit ihrer fatalen Verführungskunst. Nur la-la-la singt sie, so leicht, so unverschämt. Ihre Hände sind gefesselt, gleich wird sie abgeführt. Da reisst das Orchester den Klang in die Höhe. Ein Akzent wie ein Sprung in die Freiheit. Das ist grosses Kino.

Weitere Vorstellungen bis 21. Juni.