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Musiktheater
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Moskau, Tscherjomuschki

Operettenrevue in drei Akten und fünf Bildern
Libretto von Wladimir S. Mass und Michail A. Tscherwinski, deutsche Fassung von Ulrike Patow
Musik von Dimitri Schostakowitsch

in deutscher und russischer Sprache mit Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 15' (eine Pause)

Premiere im Großen Haus im MiR am 31. März 2018
(rezensierte Aufführung: 13.04.2018)

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Musiktheater im Revier
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Walzerseligkeit im sowjetischen Kollektiv

Von Thomas Molke / Fotos von Björn Hickmann

Den russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch verbindet man im Bereich des Musiktheaters weniger mit Operetten als vielmehr mit seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk, die sich auch heute noch einiger Popularität erfreut. Dass er sich nach Stalins Tod, der 1936 im Rahmen seiner großen Säuberungswelle nach dem Besuch dieser Oper dafür gesorgt hatte, dass Schostakowitschs Werke vom Spielplan verbannt wurden, mit der Operette Moskau, Tscherjomuschki beschäftigte, die am 24. Januar 1959 im Moskauer Operettentheater zur Uraufführung gelangte und aufgrund des großen Erfolgs drei Jahre später sogar verfilmt wurde, ist heute weniger bekannt. Nachdem das Werk 2009 bei den Bregenzer Festspielen als Rarität auf den Spielplan gestellt und drei Jahre später als Werkstatt-Produktion der Staatsoper unter den Linden im Schiller-Theater präsentiert worden ist, setzt sich nun auch das Musiktheater im Revier, das mit dem Vetter aus Dingsda vor zwei Monaten im Bereich der Operette ein nicht ganz so glückliches Händchen bewiesen hat (siehe auch unsere Rezension), mit diesem unbekannten Werk auseinander. Leider ist wie bereits beim Vetter auch in dieser Inszenierung von der eigentlichen Handlung des Stückes so gut wie nichts mehr übrig geblieben.

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Drebednjow (Zhive Kremshovski, vorne) kontrolliert mit Barabaschkina (Almuth Herbst, rechts) die Arbeiter (Ensemble) in der Spielzeugfabrik.

"Tscherjomuschki" bedeutet im Russischen "Traubenkirsche" und ist der Name einer Neubausiedlung im Südwesten von Moskau, die in den 50er Jahren in der Chruschtschow-Ära entstand. Hierhin soll eine Gruppe von Moskauer Arbeitern umgesiedelt werden. Alexander Petrowitsch Bubenzow träumt davon, dort mit seiner jungen Frau Mascha endlich eine gemeinsame Wohnung zu finden. Während er sich nämlich eine Unterkunft mit seiner Arbeitskollegin Lidotschka und ihrem Vater Semjon Semjonowitsch Baburow teilen muss, lebt seine Ehefrau bisher am anderen Ende der Stadt in einem kleinen Zimmer. Sergej Gluschkow fährt die Gruppe in die Neubausiedlung und hofft dort auf ein Wiedersehen mit der Bauarbeiterin Ljusja, in die er sich verliebt hat. Doch als sie in Tscherjomuschki ankommen, weigert sich der Hausverwalter Barabaschkin, die Schlüssel für die neuen Wohnungen herauszugeben. Der Vermieter Fjodor Michailowitsch Drebednjow beansprucht nämlich für sich und seine Frau Wawa zwei Wohnungen. Mithilfe des Gelegenheitsarbeiters Boris Koretzki können die Neuankömmlinge dann aber doch ihre Wohnungen beziehen, und Alexander und Mascha veranstalten eine große Party. Ljusja entwirft dabei einen Zaubergarten mit einer Bank, auf der jeder die Wahrheit sagen muss. Als Drebednjow und Barabaschkin auf dieser Bank Platz nehmen, gestehen sie ihre Verbrechen und werden aus dem Garten vertrieben. Die übrigen feiern ihr neues Glück in der Vorstadt.

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Kollektive Entspannung im Gleichschritt (Ensemble)

Von alldem erfährt man in der Gelsenkirchener Inszenierung nichts. Dominique Horwitz scheint dem satirischen Potenzial der Vorlage nicht zu vertrauen und zeichnet stattdessen eine Dystopie eines sowjetischen Kollektivs, in dem Individualität ein Fremdwort ist. Alles läuft im Gleichschritt ab und huldigt nur dem gemeinschaftlichen Gedanken. Um die Zuschauer nicht zu "verwirren", gibt es im Programmheft folglich auch keine Inhaltsangabe des Stückes sondern eine zynische Beschreibung eines Schein-Paradieses in einem Kollektiv. Tscherjomuschki wird lediglich als irrealer Traumort besungen, während die Arbeiter aus ihrer Kellerbehausung emporsteigen, um ihrer Pflicht in einer Spielzeugfabrik nachzukommen. Um die Arbeitsmotivation zu steigern, gibt es zunächst eine Pille, die die Welt bunter und entspannter wirken lässt, und anschließend gemeinsame Morgengymnastik, da sich die stets erforderliche Erhöhung der Produktivität so viel sportlicher bewältigen lässt. Und wenn jemand der Arbeit nicht gewachsen ist, dann wird er eben aussortiert, wie zwei junge Arbeiterinnen im ersten Teil des Abends, während sofort zwei neue Arbeiterinnen nachrücken. Zur Entspannung gibt es in den Pausen kurze Einspielungen einer "Daily Comedy Soap" mit den obligatorisch eingespielten Lachern. Es mag sein, dass es sich bei diesen Texten um Dialoge aus dem Libretto handelt, die jedoch völlig zusammenhanglos im Raum stehen.

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Party in der Gemeinschaftsbehausung (vorne: Mascha (Anke Sieloff) und Alexander (Rolf A. Scheider), Mitte hinten: Ljusja (Petra Schmidt), rechts: Kurotschkin (Charles E. J. Moulton))

Drebednjow überwacht nicht nur mit seiner Produktionsleiterin Barabaschkina - im Gegensatz zum Libretto eine Frau - die Einhaltung der Produktion, sondern wählt sich auch aus den Arbeiterinnen jeweils eine Frau aus, die er zunächst mit dem Luxus eines grünen Mantels verwöhnt und sie anschließend für eine Massenvergewaltigung freigibt, bevor er sie wieder in den Keller zu den anderen Arbeiterinnen hinabstößt. In der engen Kellerbehausung, die durch das Emporfahren des Bühnenbodens sichtbar wird, schlafen die Arbeiter teilweise auf dem Boden, weil kein Platz für genügend Betten ist. Vor dem Abstieg erhalten sie erneut eine Pille, damit sie sich erneut in eine Traumwelt flüchten können. So verwandeln sich die Frauen in Burgfräuleins und die Männer in tapfere Ritter, die ihre Angebeteten vor bösen Drachen retten müssen. Das alles wird mit seichten Operettenklängen und einer träumerischen Walzerseligkeit musikalisch untermalt, was in scharfem Kontrast zu den gezeigten Bildern steht. Da auf die Dialoge vollständig verzichtet wird und die Lieder scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht werden, kann man die einzelnen Figuren kaum ihren individuellen Schicksalen zuordnen, aber das soll man wahrscheinlich auch nicht, da es im Kollektiv ja keine Individuen gibt und jeder nur Teil eines Ganzen ist.

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Lidotschka (Bele Kumberger, oben links) als Burgfräulein mit den Rittern (vorne Mitte: Boris (Piotr Prochera) mit dem Ensemble)

Musikalisch bleibt vor allem die Titelmelodie "Tscherjomuschki" im Ohr, die der von Alexander Eberle gut einstudierte Chor immer wieder aufgreift und die in einem satirisch-parodistischen Tonfall die "heile Welt" karikiert. Unterbrochen wird diese Walzerseligkeit immer wieder von einer Sirene, die den Zuschauer brutal in die triste Realität zurückholt. Vielleicht hätte man im Saal auch Pillen verteilen sollen, um dies als weniger störend zu empfinden. Anke Sieloff und Rolf A. Scheider überzeugen stimmlich als junges Ehepaar Alexander und Mascha, können aufgrund der Regie jedoch die Probleme der beiden szenisch kaum ausgestalten. So klingen ihre beiden Duette musikalisch schön, bringen einem die Charaktere aber nicht näher. Gleiches gilt für Bele Kumberger und Piotr Prochera. Kumberger gefällt als Lidotschka in ihrer Arie mit mädchenhaftem Sopran, und Prochera zeichnet den Boris im Rahmen der szenischen Möglichkeiten als Individualisten. Eine Beziehung zwischen den beiden lässt sich allerdings kaum erkennen. Nur Petra Schmidt und Adrian Kroneberger werden als Ljusja und Sergej in der Traumsequenz im zweiten Teil große Gefühle in dem Duett "Liebe ist ein Stern" gestattet. Leider bleibt Kroneberger im Gegensatz zu Schmidt dabei stimmlich blass. Zhive Kremshovski und Almuth Herbst zeichnen den Fabrikchef Drebednjow und die Produktionsleiterin Barabaschkina als gefühlskalte und unsympathische Funktionäre, die sich die Masse mit Gewalt gefügig halten. Die Neue Philharmonie erzeugt unter der Leitung von Bernhard Stengel harmonische, walzerselige Klänge aus dem Graben, die leider nicht über die Längen der Inszenierung hinwegtrösten können. So gibt es freundlichen Beifall am Ende für alle Beteiligten.

FAZIT

Wenn man ein so unbekanntes Werk auf den Spielplan stellt, sollte man dem Publikum keine völlig verfremdete und um die eigentliche Geschichte beraubte Fassung präsentieren. Vielleicht gibt die Produktion im Staatstheater Braunschweig ab 19. Mai 2018 mehr Einblicke in das eigentliche Stück.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Stefan Malzew /
*Bernhard Stengel

Inszenierung
Dominique Horwitz

Bühne und Kostüme
Rachele Pedrocchi

Licht
Patrick Fuchs

Choreinstudierung
Alexander Eberle

Dramaturgie
Gabriele Wiesmüller

 

Neue Philharmonie Westfalen

Opernchor des MiR

Statisterie des MiR

 

Solisten

*rezensierte Aufführung

Alexander Petrowitsch Bubenzow
Rolf A. Scheider

Mascha, seine Frau
Anke Sieloff

Semjon Semjonowitsch Baburow
Urban Malmberg

Lidotschka, seine Tochter
Bele Kumberger

Boris Koretzki, Gelegenheitsarbeiter
Piotr Prochera

Sergej Gluschkow, Fahrer
Adrian Kroneberger

Ljusja, eine Bauarbeiterin
Petra Schmidt

Fjodor Michailowitsch Drebednjow, Fabrikchef
Zhive Kremshovski

Wawa, seine Frau
Lina Hoffmann

Afanassi Iwanowa Barabaschkina, Produktionsleiterin
Almuth Herbst

Kurotschkin
Miljan Milovic /
*Charles E. J. Moulton

Kurotschkina
*Silvia Oelschläger /
Ewa Stachurska

Mylkin
*Georg Hansen /
Artavazd Zakaryan

Ehefrau
*Wiltrud Maria Gödde /
Alfia Kamalova

Ehemann
*Sergey Fomenko /
Vivien Lacomme

Nachbarin
*Sina Jacka /
Lisa Laccisaglia

Tänzerensemble
Ilenia Azzato
Katharina Deschler
Sergio Giannotti
Roberto Junior
Marius Ledwig
Sayo Shiba
Igor Sousa

 

 


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