Opern-Schauplatz Genf: Hier wird dem Cold Genius warm ums Herz

Das Genfer Grand Théâtre bereitet sich auf die Rückkehr in sein renoviertes Stammhaus vor – zuvor aber gelingt dem Haus, noch in seinem Ausweichquartier, eine Produktion von Henry Purcells «King Arthur», die Massstäbe setzt.

Christian Wildhagen, Genf
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König Arthur (Simon Guélat) ist in Genf von guten Geistern umgeben. (Bild: Carole Parodi / Grand Théâtre de Genève)

König Arthur (Simon Guélat) ist in Genf von guten Geistern umgeben. (Bild: Carole Parodi / Grand Théâtre de Genève)

Die Erleichterung war ihm anzumerken. Tatsächlich muss dieser Moment eine Genugtuung gewesen sein für Tobias Richter, den Generaldirektor des Grand Théâtre de Genève. Annähernd pünktlich, so verkündete es Richter sichtlich stolz bei der Programmvorstellung für die neue Saison 2018/19, wird die Genfer Oper Anfang kommenden Jahres in ihr Stammhaus an der Place de Neuve zurückkehren; der historische Bau von 1879 wird seit bald zweieinhalb Jahren umfassend saniert. Doch am 12. Februar 2019 – so steht es nun für alle Handwerker, Planer und Bauprüfer in Stein gemeisselt – soll das neue alte Theater mit der Wiederaufnahme von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» in der Inszenierung von Dieter Dorn zurückerobert werden.

Richter kommt mit diesem Kraftakt doch noch in den Genuss, seine dann zehn Jahre währende Genfer Intendanz in einem «richtigen» Opernhaus zu beschliessen, wenn auch nur für eine halbe Spielzeit. In Genf macht man aus der Not indes ein künstlerisches Konzept: Man teilt die Spielzeit unter dem Motto «Rive droite – Rive gauche» bewusst in zwei Hälften, in ein Vorher und ein Nachher gewissermassen, und vollzieht dementsprechend nach einer letzten Aufführung von Donizettis «Liebestrank» am 20. Januar auch eine klare Trennung von der Opéra des Nations, dem Ausweichquartier nahe dem Uno-Gebäude.

Weichenstellungen

Obschon dieser einst der Comédie-Française abgekaufte und aufwendig auf gut 1100 Plätze erweiterte Holzbau alles in allem seit 2016 gute Dienste geleistet hat, scheint ihm in Genf kaum jemand nachzutrauern – ein starker Kontrast zu Zürich, wo sich schon jetzt die Stimmen mehren, die einen Erhalt des ähnlich aufwendigen Interims der Tonhalle Maag über das Jahr 2020 hinaus befürworten. Doch Richter, der aus seiner Zeit an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf entscheidende Erfahrungen im Umgang mit derartigen Ersatzbühnen mitgebracht hat, tut gut daran, seinem Nachfolger keine (künstlerische) Baustelle zu hinterlassen – zumal unter Aviel Cahn, dem designierten Intendanten des Grand Théâtre ab Herbst 2019, ohnehin vieles anders werden dürfte.

Der Wechsel von dem dann 66 Jahre alten Tobias Richter, dessen Vertrag auf eigenen Wunsch ausläuft, zu dem zwanzig Jahre jüngeren Zürcher Aviel Cahn ist nämlich nicht nur ein Generationenwechsel, sondern auch eine weitreichende ästhetische Weichenstellung: Hat Cahn doch die Flämische Oper in Antwerpen und Gent seit 2009 mit einem wagemutigen, teilweise spielerisch-unkonventionellen Musik- und Tanztheater zu einem Hotspot der Opernwelt aufgewertet.

Richter hingegen bleibt seiner Linie auch in der geteilten letzten Spielzeit treu und setzt auf etablierte Namen in gemässigt avancierten Produktionen. Stellvertretend stehen dafür erfahrene Regisseure wie David McVicar, der nach seinem fesselnden «Wozzeck» von 2017 mit Charpentiers «Médée» zurückkehren soll, ferner Giancarlo del Monaco (mit Verdis «Maskenball») und Matthias Hartmann, der mit Mussorgskys «Boris Godunow» die letzte Grossproduktion in der Opéra des Nations stemmen wird.

Welchen besonderen Reiz dieses Provisorium bei bestimmten Aufführungen entwickeln kann, zeigte die jüngste Neuproduktion der Genfer Oper. Sie entpuppte sich unverhofft als ein Juwel der laufenden Spielzeit. Das wohl auch deshalb, weil das in seiner Repertoirepolitik meist nicht allzu experimentierfreudige Haus mit Henry Purcells «King Arthur» ein Stück gewählt hatte, das nahezu in jeder Hinsicht quer steht zu sonstigen Gepflogenheiten. Dies deutet sich bereits an in der kuriosen Gattungsbezeichnung «Semi-Opera». Dahinter verbirgt sich eine Mischform aus Sprechdrama und funktionaler Bühnenmusik, die im Britannien des 17. Jahrhunderts ihre Blüte erlebte; heute indes stellt sie jedes Operntheater ohne eigenes Schauspielensemble vor gewaltige aufführungspraktische Probleme.

Musik und Sprache(n)

Denn auch bei «King Arthur» von 1691 sind alle Hauptfiguren Sprechrollen. Purcells einzigartig originelle und stellenweise betörend schöne Musik bleibt dagegen auf Arieneinlagen von Nebenfiguren, Zwischenaktmusiken und Chöre beschränkt. Das führt zu einer Unwucht, die eine moderne Inszenierung ausgleichen muss, da das zugrunde liegende Theaterstück von John Dryden – eine stark an Shakespeares «Sommernachtstraum» orientierte Selbstfindungsfabel rund um den Herrn der Tafelrunde – ausserhalb des englischen Sprachraums kaum adäquat aufzuführen ist. In Genf behilft man sich mit einem Mix aus französisch deklamierten und englisch gesungenen Passagen, was erstaunlich gut zu dieser ohnehin hybriden Theaterform passt.

Der argentinische Regisseur und Schauspieler Marcial Di Fonzo Bo, der vor allem in Frankreich arbeitet, geht freilich einen entscheidenden Schritt weiter: Er verzahnt Wort und Ton, so eng es eben geht, etwa mit bald ganz harmonisch wirkenden Überblendungen von Sprache und Musik, wie später im romantischen Melodram. Dabei geht es jedoch nicht um (falschen) Bühnennaturalismus; vielmehr bleibt das «Gemachte», das Inszenierte des Geschehens stets als Brechung und doppelter Boden spürbar – eine (Selbst-)Ironie, die Regisseuren aus dem deutschsprachigen Raum leider oft abgeht.

Selbstredend baut der gewiefte Theater-Spieler auch eine urkomische Anspielung auf den Szene-Sänger Klaus Nomi ein, der mit seiner Performance der Arie «Oh What Power Art Thou» schillernde Berühmtheit erlangte. Hier singt sie Grigory Shkarupa als Cold Genius in der Original-Basslage, wie überhaupt die Musik bei Leonardo García Alarcón und seiner hochspezialisierten Cappella Mediterranea eine unerhörte Stimmigkeit und Dichte erreicht. Auch die übrigen Sänger stehen der virtuos agierenden Schauspielertruppe um Simon Guélat als Arthur punkto Bühnenpräsenz nicht im Geringsten nach. Ebendieses Gleichgewicht aber ist unendlich schwer zu erreichen.

Bis zum 9. Mai steht die Genfer Produktion noch drei Mal auf dem Spielplan. Das Theater Basel plant zur Eröffnung der Saison 2018/19 eine eigene Neuproduktion von «King Arthur» in der Regie von Stephan Kimmig, musikalisch geleitet von Christopher Moulds.