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Bühne und Konzert Bayerische Staatsoper

Für diese Inszenierung wurde Frank Castorf ausgebuht und beklatscht

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Aus einem Totenhaus 2018 Bayrische Staatsoper Aus einem Totenhaus 2018 Bayrische Staatsoper
Geordnetes Chaos: Frank Castorfs "Aus einem Totenhaus" an der Bayerischen Staatsoper
Quelle: W.Hösl
Es wird gesoffen, geprügelt und gekotzt: Frank Castorf widmet sich zu seinem Einstand an der Bayerischen Staatsoper dem eingesperrten Mann. Nicht alle mochten seine Version von „Aus einem Totenhaus“.

Man staunt: ein Frank Castorf, der sich kurz, ja knapp fasst und mit sensationell wenigen 95 Spielminuten auskommt! Möglich wurde dieses Quasi-Epigramm nur, weil den ungekrönten Meister der stundenlangen, genialischen, aber auch gequälten Dostojewski-Exegese ein Seitenstrang in dessen Werkkosmos lockte: die Oper „Aus einem Totenhaus“ des großen mährischen Komponisten und Menschenschilderers Leoš Janáček, eine Musiktheatralisierung von Dostojewskis düsterer Erzählung.

Als Einstand an der Bayerischen Staatsoper brachte diese dritte von fünf Saisonpremieren dem superfleißigen Castorf die obligatorische Buhs der Traditionalisten, aber auch viel Beifall ein. Er selbst hatte jüngst geäußert, wie sehr ihm die geordneten, gut vorbereiteten Produktionsumstände an den großen Opernhäusern zunehmend Spaß machen, wo alle schon fertig studiert sind, wenn er antritt, um geordnetes Chaos zu entfesseln. Das tat er auch diesmal, mit lässiger Meisterschaft.

Ein Gefängnis ist ein Gefängnis. An jedem Ort der Welt. Zu allen Zeiten. Mögen auch die Haftbedingungen unterschiedlich sein, der Alltag ist trist, hier geht es um Schuld und (vielleicht) Sühne, manchmal auch um Unschuld, um Unterdrücker und Unterdrückte. Ein Ort, an dem der Mensch zum Mensch wird, zum Unmensch, zum tätowierten Tier.

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Ein Platz, wo unser Rassenverhalten ziemlich unverstellt zum Ausdruck kommt, wo man sich kaum verstecken kann, auf sich selbst zurückgeworfen ist. Solches als Opernthema, das geht kaum radikaler, frauenloser, weniger klischeehaft. Und doch ereignet sich auch an solchem Ort Hoffnung und Sehnsucht, Liebe gar, Verzweiflung und Trauer, die großen emotionalen Momente der Oper eben.

Insofern war es fast zwangsläufig, dass Leoš Janáček sich nach seinen mährischen Dorf-, Frauen- und Fuchsgeschichten, die doch nur Parabeln sind für Schicksale und die Natur als solche, in seinem letzten, 1930 in Brünn uraufgeführten Musiktheater „Aus einem Totenhaus“ nach Dostojewskis Prosaarbeit von 1862 mit dem Menschen und Unmenschen, dem Mann also beschäftigte.

Denn auch hier, im kalten, miesen Gulag mit seinen nicht sonderlich sympathisch aus der Masse heraustretenden Insassen und Angestellten, zeugt seine faszinierend ruhelose, dann wieder lethargische Partitur von der archaisch-utopischen Einheit der Elemente: Musiksprache als Sprachmusik.

Zartheit zwischen der Tristesse

An der Bayerischen Staatsoper dirigiert sich Simone Young mit Schönschrift und Zartheit, mit strahlenden Geigen und selten nur kraftvoller Lautstärke durch die kunstvoll ausgestellte Ödnis dieser suggestiv schattenlosen Schärfe. Ihr gelingt – als reizvoller Kontrast zur nihilistischen Nichthandlung – eine eigentlich zu weiche, dabei im (selten) Filigranen ekstatisch erregte Lesart; mit wenigen lyrischen Ruheinseln, meist in den fünf Erzählungen von Einzelschicksalen, die Täter und Opfer so von den übrigen Gefangenen separieren.

Simone Young lässt das Finale leise verklingen, so wie sie auch sonst auf den typischen, hier dürr orchestrierten Malstrom der Lyrik setzt, der freilich anschwellen und Forte-Wogen schlagen kann. Das ihr gewogene Orchester entledigt sich seiner komplexen Aufgabe souverän. Selbst die Ketten rasseln hier manierlich.

Die von Dunst umwaberte, von scharfen Scheinwerferkegeln fast religiös erhöht beleuchtete Bühne beherrscht neuerlich eines dieser famos drehbaren Albtraummärchenschlösser von Aleksandar Denić. Darin verdichtet er ein ganzes Gefängnisareal und die Epochen dazu. Mit seinen Holztoren und Türmen, dem Hasenstall und den Ölfässern schreibt es das Bayreuther „Walküre“-Einheitsbild fort. Dazu gibt es stählerne Waschräume, Kranken- und Wachzimmer, einen Zwiebelturmkapellenerker, einen Kinosaal und über allem – gülden strahlend: der doppelköpfige Zarenadler.

Aus einem Totenhaus 2018 Bayrische Staatsoper
Albtraummärchenschloss: Aleksandar Denić Kulisse für "Aus einem Totenhaus"
Quelle: W.Hösl
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Auf zwei Leinwänden werden in höchster Perfektion live eingefangene Simultanszenen und alte Filmausschnitte gezeigt. Ein Pepsi-Werbewürfel dreht sich in kyrillischer Schrift, wieder gibt es (wie in der „Götterdämmerung“) ein Kinoplakat für einen Trashhorrorfilm.

Und so inszeniert Frank Castorf auch: brutal und feinsinnig, stilisiert und naturalistisch, ausschweifend und fokussiert. Da wird gesoffen, gekotzt und geprügelt. Die stumme Hoffnungsfigur eines verletzten Adlers vereint er klug mit dem androgynen tatarischen Gefangenen Aljeja (traditionell von einer Frau gesungen: der zerbrechlichen Evgeniya Sotnikova). Der freilich flattert als sexy brasilianischer Samba-Piepmatz wie eine Schwester des „Siegfried“-Waldvöglein im roten Paillettenmini von Adriana Braga Peretzki zwischen dem Stacheldraht.

Und weil Castorfs Trotzkis Wohnhaus in Mexico City an ein Gefängnis erinnerte, sind Teile des fabelhaften Chors eben als glitzernde „Dia de los Muertos“-Skelette verkleidet, und auch eine der falschen Frauen der im zweiten Akt aufgeführten Pantomime ähnelt Frida Kahlos Blumenmädchen. Vor dem dritten Akt rezitiert der betrunkene Sträfling (Galeano Salas) zudem einen Ausschnitt aus dem Lukas-Evangelium auf Spanisch.

Wer ist eigentlich schuldig?

Doch im Wesentlichen konzentriert sich Castorf ganz konventionell auf die Abfolge der Hauptcharaktere, die schlaglichtartig von ihren (angeblichen) Verbrechen erzählen. Da ist neben Aljeja der politische Häftling Gorjančikov (bärig: Peter Rose), der nach den dichten, atemlosen 90 Minuten wieder gehen darf.

Dann Aleš Brisceins lyrisch gesungener Luka Kuzmič. Später rührt der geradlinig klarstimmige, von Furunkeln verunzierte Bo Skovhus als Šiškov, der seine Akulka liebte, sie aber auch missbrauchte und seinen Nebenbuhler erschoss. Veitstänzelnd erzählt der körperlich agierende Charles Workman so scharf wie wohltönend von Skuratovs verpfuschtem Leben.

Viele Details gehen in diesen Wimmelbildern unter, die absichtsvoll die Hauptfiguren an den Rand drängen. Doch es dreht sich hier nicht um Individuen, sondern um das Prinzip Gefängnis. Wie sehr seine Insassen schuldig sind? „In jeder Kreatur ein Funke Gottes“, hat Janáček der Partitur vorangestellt. Doch er, Dostojewski und Castorf beantworten das nicht, verweigern sich als Richter. So dreht sich die Bühne mit diesem untröstlichen Totentanzhaus einfach weiter. Immerzu.

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