Frank Castorf an der Bayerischen Staatsoper: Die Geschichte ist ein grausames Kontinuum

Der Theater-Berserker gibt sein Regiedebüt im Nationaltheater München mit Leoš Janáčeks Dostojewski-Oper «Aus einem Totenhaus» – das Ergebnis erzählt vor allem von Castorf selbst.

Marco Frei, München
Drucken
Postmoderne Lager-Albträume zwischen Gulag und Auschwitz: Leoš Janáčeks «Aus einem Totenhaus» in München. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Postmoderne Lager-Albträume zwischen Gulag und Auschwitz: Leoš Janáčeks «Aus einem Totenhaus» in München. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Die mediale Aufmerksamkeit war genauso kalkuliert wie die Buhrufe am Ende. Wer Frank Castorf inszenieren lässt, weiss, dass dieser in erster Linie sich selbst in Szene setzt. Er braucht den Widerspruch, provoziert gerne die konservativen Gemüter im Publikum. Und weil in der Oper die Konvention insgesamt ausgeprägter ist als im Sprechtheater, reizt das Castorf nur umso mehr. Seine erste Oper hat der Regisseur vor genau zwanzig Jahren inszeniert: Verdis «Otello» am Theater Basel.

In Basel verursachte Castorf auch einen seiner grössten Skandale, als er 1991 in seiner Adaption von Schillers «Wilhelm Tell» die Schweiz mit der gerade aufgelösten DDR verglich. Lange ist das her – ist Castorf unterdessen altersmilde geworden? Vielleicht. Altersweise? Nicht unbedingt. Gewiss zählt Castorf jedoch längst zum «Establishment», und so ist die Bayerische Staatsoper wieder einmal bloss auf einen längst «fahrenden Zug» aufgesprungen, als sie Castorf jetzt erstmals an diesem Haus Regie führen liess.

Materialschlacht ohne Heute

Besonders kühn ist das auch insofern nicht, als Castorf ja bei den Wagner-Festspielen im nahen Bayreuth bereits 2013 den «Ring des Nibelungen» neu inszeniert hatte. Überdies wird in weiten Teilen Deutschlands um seine Person bereits eine Art Kult betrieben, zumal in Berlin, der irrationale Züge trägt: Nach dem Debakel seines Nachfolgers an der Volksbühne gilt Castorf vielen nahezu als Erretter des Theaters. Das Debüt am Münchner Nationaltheater war also durchaus ein PR-Coup, klug gewählt erschien überdies das Werk.

Die Oper «Aus einem Totenhaus» von Leoš Janáček basiert nämlich auf einem Stoff von Fjodor Dostojewski, und diesen Autor liebt Castorf ganz besonders. Schon vor 25 Jahren hat er die «Dämonen» verfilmt, zudem mehrere Stoffe von Dostojewski inszeniert, auch in Zürich. Trotzdem ist in München das Kalkül nicht aufgegangen, weil sich in der Inszenierung Castorfs geistige Schärfe und – schlimmer noch – feinfühlige Empathie rarmachen. Dabei gibt es einige kluge Ansätze.

In dem autobiografisch gefärbten Roman verarbeitet Dostojewski seine Erfahrungen als Häftling in einem sibirischen Straflager. Unter Zar Nikolaus I. gehörte der Schriftsteller einem Kreis liberaler Literaten an, der zerschlagen wurde. Das Todesurteil für Dostojewski wurde in letzter Sekunde aufgehoben und in Lagerhaft umgewandelt. Mit seinem Buch prangert er nicht nur den unmenschlichen Strafvollzug im Zarenreich an, sondern entwirft ein vielschichtiges Psychogramm vom Leben im Lager.

Bei Dostojewski wandelt sich das Gefängnis zusehends zu einer Metapher für eine Gemeinschaft schlechthin, die dem Ich stets aufgezwungen wird und das Individuelle repressiv unterbindet. In seiner Inszenierung entlarvt Castorf dagegen das Lagersystem zuvörderst als grausames Kontinuum der Geschichte, namentlich in Russland. Tatsächlich haben die Kommunisten das zaristische Lagersystem Sibiriens zum gigantischen «Gulag» ausgebaut.

«Kein aktuelles Theater»

Bei seiner Entlarvung der Geschichte als grausames Kontinuum kann sich Castorf auch auf die russische Literatur stützen. So hat Dostojewskis Roman weitere «Lagerliteratur» inspiriert, von Anton Tschechows «Die Insel Sachalin» bis hin zum «Archipel Gulag» von Alexander Solschenizyn. Dass ähnliche Lagersysteme auch noch im heutigen Russland existieren, wird von Castorf indes total ausgeblendet. Auch von Guantánamo ist keine Rede, obwohl dort anfänglich mit ähnlichen Methoden gefoltert wurde wie seinerzeit in den Gefängnissen der frühen DDR.

Er wolle kein aktuelles Theater machen, betont Castorf in Interviews. Das sei für ihn die «schlimmste Forderung». Wenn er jedoch in dieser Inszenierung erneut mit seinen viel zitierten «historischen Schichtungen» arbeitet und dabei jedes Heute komplett ausspart, verspielt er die eigene Glaubwürdigkeit. So marschieren in München also Zaristen und Stalinisten über die Bühne, und sogar Leo Trotzki ist präsent. Von den Schergen seines Erzfeindes Stalin wird er im mexikanischen Exil ermordet, was Castorf einen lockeren Brückenschlag zu Lateinamerika ermöglicht.

Sonst aber zitiert sich Castorf selbst, samt Filmeinblendungen und Texten, vor allem aus den «Dämonen», und diese Materialschlacht wird im Bühnenbild von Aleksandar Denić zu einer Bilderflut. Ein monströses Gebilde zeigt den Gulag – und den Elektrozaun von Auschwitz. Ein Zwiebelturm symbolisiert die russisch-orthodoxe Kirche, denn: Die Geistlichkeit hat einst die repressive Politik der Zaren unterstützt. Unter Stalin findet sich der Klerus selber im Straflager wieder. Und das Heute? Das dreht sich allenfalls als «Pepsi»-Reklame – eine arg abgegriffene Kapitalismus-Kritik.

Barocke Opulenz

Wie eine grosse deutsche Tageszeitung kürzlich vorrechnete, sollen für diesen «Totentanz auf das 20. Jahrhundert» stolze 21,2 Tonnen Holz verbaut worden sein, zudem über sechs Tonnen Stahl und tausend Schindeln für den Zwiebelturm. In dieser barocken Opulenz gab es freilich weder Platz für eine kluge Personenführung noch Raum zur Entfaltung für die hochkarätigen Solisten, allen voran Bo Skovhus in der Partie des Šiškov, Peter Rose als politischer Häftling Gorjančikov und Evgeniya Sotnikova als Tartar Aljeja, ferner Aleš Briscein in der Rolle des Luka und Charles Workman als Narr Skuratov.

Auch die vielfach kammermusikalisch reduzierte Musik wird von der Bühnenopulenz geradezu erschlagen. Dabei bemüht sich die Dirigentin Simone Young mit dem Bayerischen Staatsorchester durchaus, diese filigranen Klänge herauszustellen; sie greift dafür auf eine Neuedition von John Tyrell zurück. Für so viel Differenzierung bleibt in Castorfs Regie dagegen ebenso wenig Raum wie für die Vielschichtigkeit in Dostojewskis Lager-Psychogramm. An dieser Oper hat er schlicht vorbeiinszeniert.