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Kritik - "Aus einem Totenhaus" in München Castorfs poetische Höllenmaschine

Falls es eine Oper geben sollte, die für Frank Castorf wie gemacht ist, dann diese. "Aus einem Totenhaus" von Leoš Janáček ist hochgradig Castorf-kompatibel. Bei diesem düsteren Opernabend lehnt man sich zurück und lässt sich von Musik und Bildern überfluten. Am 21. Mai 2018 hatte Janáčeks Oper unter der musikalischen Leitung der australischen Dirigentin Simone Young Premiere an der Bayerischen Staatsoper.

Das Stück spielt in Russland, Castorf ist von Russland besessen. Es beruht auf einem Roman von Dostojewski, Castorf ist dostojewskibesessen. Es erzählt keine lineare Geschichte, sondern wirft Schlaglichter auf die Schicksale von sibirischen Strafgefangenen. Castorf liebt Collagen. Und es zeigt schonungslos, wie sich Menschen das Leben zur Hölle machen. Castorfs Theater ist davon nicht nur besessen, es funktioniert selbst als eine Art poetische Höllenmaschine.

So können Castorf und sein großartiger Bühnenerfinder Aleksandar Denić lustvoll ihre bizarren Bilderbögen ausbreiten – und es passt. Auf der düsteren Drehbühne türmt sich eine bedrohliche Lagerarchitektur, ein labyrinthischer Verhau aus Stacheldraht und Bretterverschlägen, ein sowjetischer Gruselgulag. Das 20. Jahrhundert überlagert diese eigentlich im Zarenreich spielende Geschichte. Auch der kapitalistische Westen grüßt: Eine Pepsi-Werbung in kyrillischer Schrift leuchtet in die sibirische Finsternis. Wie im Traum verbinden sich scheinbar unlogische Assoziationen mit Bildern von fotographischer Genauigkeit. Da gibt es etwa in diesem sibirischen Straflager, ganz praktisch und historisch korrekt, einen Hasenstall mit lebenden Karnickeln. Durch diese naturalistische Albtraum-Bildwelt spukt das Pandämonium des Castorfschen Theaters: Paradiesvögel und Voodoopriester, Totenköpfe, Theaterblut und Tätowierungen.

Überzeugende Musiker - auf der Bühne und im Orchestergraben

Dabei ist Leoš Janáčeks Musik in ihrer Klangwut der Castorfschen Bilderwut in jeder Sekunde gewachsen. Was aus dem Orchestergraben kommt, leuchtet womöglich noch greller als das Bühnengeschehen, kontert aber Castorfs abgebrühten Pessimismus durch uneingeschränktes Vertrauen in die Kraft der menschlichen Gefühle. Das ist höllisch schwer zu spielen, weil extreme Emotionen in Janáčeks Orchester durch extreme Lagen ausgedrückt werden. Man hört durchaus, dass die Musiker des Bayerischen Staatsorchesters manchmal ziemlich ins Schwitzen kommen. Aber sie können sich auf die sichere Hand von Dirigentin Simone Young verlassen, die an diesem Abend einen exzellenten Job macht. Ebenso wie das gesamte Sänger-Ensemble, aus dem Bo Skovhus als Šiškov und Charles Workman als Skuratov herausragen.

Eine Flut von Musik und Bildern

Natürlich lässt Castorf wieder mal filmen, was das Zeug hält. Es gibt seitenlange Dialoge mit Schrifttafeln wie im Stummfilm als Parallelaktion zur Musik. Und es wird mal wieder viel zitiert, aus der Bibel, oder aus Dostojewskis Roman "Die Dämonen", oder aus … Aber es ist sowieso unmöglich, alle Anspielungen zu entschlüsseln. Es ist auch gar nicht nötig. Man lehnt sich zurück und lässt sich von Musik und Bildern überfluten. Oft zieht es einen tief rein in diesen Strudel, dann wieder kommen Durststrecken und manchmal denkt man: Das hab ich in andern Castorf-Sausen schon mal besser gesehen. Trotzdem – ein auf seine verquere Weise absolut stimmiger Abend. Schließlich ist das Stück für Castorf wie gemacht.

Sendung: "Allegro" am 22. Mai 2018 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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