Wegen Ehebruch springt keiner mehr in die Wolga

Wie umgehen mit einem Stück, das aus der Zeit gefallen scheint? Radikale Umdeutungen helfen nicht immer, wie Leoš Janáčeks Oper «Katja Kabanowa» in der Regie von Florentine Klepper am Stadttheater Bern zeigt.

Thomas Schacher, Bern
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Leben und Sterben einer Ehebrecherin als Show? In Bern macht es Florentine Klepper den Zuschauern bei Leoš Janáčeks Oper «Katja Kabanowa» nicht leicht. (Bild: Konzert Theater Bern)

Leben und Sterben einer Ehebrecherin als Show? In Bern macht es Florentine Klepper den Zuschauern bei Leoš Janáčeks Oper «Katja Kabanowa» nicht leicht. (Bild: Konzert Theater Bern)

Sind wir in der falschen Vorstellung? Das ist ja gar keine Oper, sondern ein Puppenspiel! Ein Mann, der sich später als Spielleiter zu erkennen gibt, zieht die Vorhänge einer Kasperltheaterwand auseinander. Dahinter werden, seitlich aneinandergereiht, Puppen mit überdimensionalen Pappköpfen sichtbar. Es sind die realen Sänger des Stücks, und sie singen genau die Melodien, die in der Partitur vorgesehen sind. Aber die Figuren haben keine Individualität, es sind Masken. Erst im zweiten Bild findet eine Demaskierung statt, und man entdeckt, dass die Pappköpfe genau nach den realen Gesichtern der Figuren geformt sind.

Leoš Janáčeks «Katja Kabanowa», 1921 in Brünn uraufgeführt, ist definitiv kein Stück nach dem Geist von heute. Im Zeitalter von Feminismus, Polyamorie und hohen Scheidungsraten mutet diese Geschichte nach dem Schauspiel «Das Gewitter» von Alexander N. Ostrowski leicht anachronistisch an. Die Hauptfigur Katja, die Ehebruch begeht, sich öffentlich anklagt und in ihrer Verzweiflung in die Wolga springt, bietet für heutige Menschen wohl kaum noch Identifikationsmöglichkeiten. Eine echte Knacknuss also für eine angemessene Inszenierung. Am Stadttheater Bern wagt Florentine Klepper nun eine neue Deutung.

Ein Opfer ihrer selbst?

Die Regisseurin, die vor einigen Jahren in Dresden Wagners «Fliegenden Holländer» aus der Perspektive Sentas als Emanzipationstheater gedeutet hat, wählt auch hier einen feministischen Ansatz. Er ist allerdings zu konstruiert, zu distanziert und teilweise auch rätselhaft, so dass man bei der Premiere im Stadttheater Bern emotional zu selten gepackt wird. Klepper, Martina Segna (Bühne) und Adriane Westerbarkey (Kostüme) zeichnen Katja als Opfer nicht der Gesellschaft, sondern ihrer selbst.

Indem Katja aus ihrer Pappmaske schlüpft und später, gemeinsam mit ihrer Freundin und Dienerin Barbara, ihre Beinstulpen auszieht, emanzipiert sie sich von den Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie probt den Aufstand gegen ihre dominante Schwiegermutter, die Kabanicha; aber auch gegen Tichon, ihren Ehemann, der seiner Mutter hörig ist. Und sie wagt, angestachelt von Barbara, eine Affäre mit Boris, der seinerseits unter seinem tyrannischen Onkel Dikoj leidet. Doch Katja erschrickt – in der Lesart der Regisseurin – vor ihrem eigenen Mut und kapituliert.

Wenn Boris im letzten Bild Abschied von Katja nimmt, erscheint ihr Pappmasken-Double, reisst sie gewaltsam von Boris weg, zerrt sie auf den Rand des Kasperltheaters und stranguliert sie, indem es sie mit ihrem Halsband nach hinten zieht. Einzig Barbara gelingt der Ausbruch aus dieser Gesellschaft; die Flucht darf sie indes nicht, wie vom Libretto vorgesehen, mit dem in sie verliebten Freigeist Kudrjasch antreten, sie muss vielmehr allein aufbrechen.

Die Situation des Theaters im Theater zieht sich durch das ganze Stück. Die nichthandelnden Figuren sitzen meistens teilnahmslos in ihren Stuhlreihen und verfolgen das Geschehen wie einen Film. Wenn sich Katja während der Gewitterszene vor versammelter Gesellschaft des Ehebruchs bezichtigt, kann folglich niemand eingreifen. Viel Distanz schafft auch die am Brechtschen Theater orientierte Figur des Spielleiters (Todd Boyce). Dieser – im Stück ist er Kudrjaschs Freund Kuligin – arrangiert die Requisiten und «erklärt» das Geschehen: Mit seinen Scrabble-Buchstaben formt er Plattitüden wie «Die Sitte», «Die Schuld» oder «The show must go home». Dass bei so viel Brechung auch der zentralen Liebesszene im zweiten Akt alle Nähe abgeht, ist nur folgerichtig.

Keine Charakterprofile

Dabei explodiert Janáčeks Musik gleichsam vor Emotionalität und nimmt einen im Auf und Ab der Gefühle total gefangen. Dafür ist primär die Instrumentalschicht verantwortlich, die das Geschehen kommentiert und mit einem Subtext versieht, der mit Worten nicht auszudrücken ist. Wenn am Schluss der besagten Liebesszene Katja allein zurückbleibt, verströmt das Orchester einen unbeschreiblich warmen Klang in reinstem Dur, als blickte man direkt in Katjas Herz. Das vom Chefdirigenten Kevin John Edusei geleitete Berner Symphonieorchester wird dem geforderten Reichtum an Ausdrucksarten leider nicht immer gerecht; namentlich bei den Streichern muss an der Homogenität des Klangs noch gearbeitet werden.

Für die Sängerinnen und Sänger ist es in dieser Inszenierung, die dezidiert nicht psychologisiert, schwierig bis unmöglich, sich als Charaktere zu profilieren. Doch die Katja von Johanni van Oostrum schafft das Kunststück erstaunlich gut. Die südafrikanische Sopranistin, die auch Senta und Elsa in ihrem Repertoire führt, überzeugt in der Rolle der nach Identität suchenden Frau voll und ganz. Eingeschränkter sind die gestalterischen Möglichkeiten von Alessandro Liberatore als Boris. Erfrischend wirkt die junge Eleonora Vacchi als sich selbst verwirklichende Barbara. Erstaunlich gut fügt sich der kurzfristig eingesprungene Joshua Kohl als ihr Lover Kudrjasch ins Geschehen ein. Als Karikaturen sind die Kabanicha von Ursula Füri-Bernhard, der Dikoj von Andreas Daum und letztlich auch der Tichon von Andries Cloete gezeichnet. Von dieser Gesellschaft hat Katja eigentlich nicht viel zu befürchten.