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Mangel-Haft: Castorf inszeniert „Aus einem Totenhaus“ in München

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Expressives bis zur Entäußerung wird von den Solisten verlangt, hier Bo Skovhus als Šiškov.
Expressives bis zur Entäußerung wird von den Solisten verlangt, hier Bo Skovhus als Šiškov. © Foto: Wilfried Hösl

Ein spätes, enttäuschendes Debüt: Berlins Theaterlegende lässt es bei „Aus einem Totenhaus“ an der Bayerischen Staatsoper routiniert castorfen.

München - Die Hasen sind sicher, den Säuen geht es schlecht. Während also Meister Langohr, Symbol für Fruchtbarkeit, Neuanfang, Auferstehung und andere schöne Dinge, im Bühnenkäfig sein täglich Stroh mümmelt, wahlweise auch von hochhackigen Damen in der Züchtung „Deutscher Riese“ über die Szene getragen wird, ersäuft das Borstenvieh. Der Teufel des Menschen ist ins Schwein gefahren. Freilich nur in einer Erzählung zwischen Akt zwei und drei, als Zitat aus dem Lukas-Evangelium, auf Spanisch vorgetragen von einem Häftling. Es ist das größte Text-Extra, das sich Frank Castorf gestattet. Und mutmaßlich ist dies überhaupt sein kürzester Theaterabend: 100 Minuten „Aus einem Totenhaus“ – und das bei ihm, der seine Berliner Volksbühnen-Sessions gern bis in den neuen Tag hinein überdehnte.

Denn siehe, auch die Cowboys der Avantgarde werden alt, etabliert und vorhersehbar. Wobei eine Castorf-Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper längst fällig war. Doch eine verhängnisvolle Logik bahnte sich da an. Dostojewskis Roman-Erinnerungen aus dem Straflager, gefasst in eine Partitur von Leoš Janáček, aus deren Ostinato-Bewegungen die Notensplitter nur so herausfliegen. Überhaupt eine Dramaturgie, die das Ornament, den Augenblick sucht und den großen Bogen nicht kennt. Dazu Schwiemeliges aus Sowjetzeiten: An welchen Regisseur man dabei wohl denkt? Genau.

Grundstimmung am Ende: Mei, der Castorf halt

Sogar die Buhs liefert das Premierenpublikum eher pflichtschuldig ab, man strebt schulterzuckend den Ausgängen zu, Grundstimmung: Mei, der Castorf halt. Wobei eines Janáček/ Dostojewski gewiss nicht im Sinn hatten: einen Schocker, einen Brutalo-Thriller, ein Splatter-Movie, all das also, was den Zuschauer mit Abstoßendem überwältigt. Das Grauen ereignet sich vielmehr in der kleinen Geste und in ihrer Summe, auch im Verstehenwollen des Alltags hinter Stacheldraht. Gerade Letzteres kann den größten Horror produzieren, der Holocaust-Überlebende Imre Kertész treibt das in seinem „Roman eines Schicksallosen“ bis ins Unerträgliche.

Es scheint, als ob Castorf, der das Wimmelbild zum Prinzip gemacht hat, dies bei seiner lauen Münchner Tat bewusst geworden ist. Im dritten Akt des „Totenhauses“, der in der Krankenstation spielt, wird also eine Portion Ekel nachgereicht. Viel Blut, mutmaßlich auch Exkremente (das Bühnendunkel fängt das gnädig ab) und fast abgerissene Ohren eines Sträflings, aus denen es verdächtig sabbert. Doch die Gleichzeitigkeit der Mini-Ereignisse, zu der auch die gewohnten Video-Aufnahmen von Hinter- und Nebenbühne beitragen, birgt ein Problem: Sie nivelliert.

Immerhin gibt es was auf die Augen. Und wieder trägt Bühnenbildner Aleksandar Denić, ohne den Castorf-Abende nur ein Drittel so bedeutungsvoll wären, den Sieg davon. Sein Totenhaus ist eine aufgeplatzte, mehrstöckige Scheune, gekrönt vom Goldadler des Zaren. Immer neue Drehungen ermöglichen immer neue Einblicke. Veranda, Stacheldraht-Verschlag, Hasenstall, Küchenzeile und Lagerraum sind virtuos verschachtelt. Ein kreiselndes Pepsi-Logo weckt kapitalistische Verheißungen.

Die Sträflingserzählungen als pures Rampentheater

Am Anfang ist die Aufführung purer Realismus, ein 1:1-Nachbuchstabieren in Lumpen und Leder. Später, beim Theaterspiel der Häftlinge, biegt das ab in einen androgynen Surrealismus. Der verwundete Adler, Symbol der Freiheit, wird übersetzt in eine Frau: Aljeja, der junge, von einer Sopranistin gesungene Sträfling, ist ein gefiedertes Revuegirl, eine Männerprojektion aus dem Glamour-Bereich. Und manchmal driftet alles in eine Poesie des Schreckens, wenn Schnee rieselt und die Szenerie in malerisches Gegenlicht getaucht wird. Auch Castorf kann Kitsch.

Dreimal fokussiert sich das Ganze, aber das hat Janáček ohnehin so vorgesehen. Die Sträflingserzählungen sind bei Dostojewski konstituierend für den Roman. Als (Selbst-)Bewusstwerdung, als Gedanken-Anker, auch als Prahlen mit den eigenen Taten. Bei Castorf sind sie nicht an die Mitgefangenen gerichtet, sondern ans Parkett. Opas Oper feiert ausgerechnet hier ihre Auferstehung: als bloße Arien-Situation an der Rampe. Für die Solisten, bis in die Nebenrollen bewundernswert bei der Sache in der szenischen und vokalen Entäußerung, ist das trotzdem ein Fest. Für Aleš Briscein als Luka, für Charles Workman, der Skuratov in den Irrsinn tänzeln lasst, erst recht für Bo Skovhus als Šiškov, der seine Wozzeck- und Lear-Erfahrung mit schonungsloser Expressivität ausspielt und -singt.

Simone Young betont das Eisige, Ungeschönte

Schönes gibt es auch nicht aus dem Graben zu vermelden, aber das ist gewollt. Simone Young treibt das Bayerische Staatsorchester zu einem hohen Grundpuls. Das Kantige, Eisige, Ungeschönte, Brachiale der Partitur wird – eine Spur zu laut – betont. Janáčeks Melos, auch das gibt es ja im „Totenhaus“, interessiert weniger. Dass die Partitur nicht Teil des Münchner Alltagsgeschäfts ist, hört man. Die Trübungen und Unschärfen passen allerdings ganz gut zum Stück, erst recht zu Castorfs Konzept.

Ein unbefriedigender Abend also, an dem nicht unbedingt er schuld sein muss. Am besten ist der Berliner ja dann, wenn er sich an Opern abarbeiten muss, der Bayreuther „Ring“, besonders Gounods „Faust“ in Stuttgart haben das gezeigt. Interessanten Regisseuren das unpassende Stück geben, man denke da nur an David Böschs „Meistersinger“, Calixto Bieitos „Fidelio“ oder Romeo Castelluccis „Tannhäuser“: Auch das ist eine Münchner Tradition.

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