Der Bariton brilliert, nur der Regisseur pausiert: Saison-Finale in Genf und Lausanne

Beim Besuch in der Suisse romande kann man einiges lernen über die Opernästhetik der Gegenwart: Bei «Don Giovanni» in Genf und «Simon Boccanegra» in Lausanne hat das Regietheater den Rückzug angetreten.

Peter Hagmann, Genf/Lausanne
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Simon Keenlyside (Don Giovanni) und Myrtò Papatanasiu (Donna Elvira) im neuen Genfer «Don Giovanni». (Bild: Carole Parodi / GTG / PD)

Simon Keenlyside (Don Giovanni) und Myrtò Papatanasiu (Donna Elvira) im neuen Genfer «Don Giovanni». (Bild: Carole Parodi / GTG / PD)

Nord oder Süd, das ist die Frage – auch im Musiktheater. Was in einem Opernhaus italienischer Prägung als selbstverständlich gilt, kann in einer gleichartigen Institution aus dem deutschsprachigen Umfeld auf Ablehnung stossen. Hierzulande treten Regisseure, auch wenn sie sich nicht explizit zum sogenannten Regietheater bekennen, mit dem Anspruch einer szenischen Aussage, mithin einem interpretierenden Zugriff, an; das Musiktheater wird dabei zu einer Art Gesamtkunstwerk, dessen einzelne Parameter sich in einer bewusst gestalteten Gleichwertigkeit zueinander verhalten.

In südlichen Gefilden dagegen – die übrigens durchaus auch nördlich des Alpenkamms liegen können – nimmt das Szenische oft dekorative, jedenfalls dienende Funktion an; jeder Zug ins absichtsvoll Deutende gilt hier als verpönt. Im Vordergrund steht vielmehr der Sänger, die Sängerin. Solches hat in Rechnung zu stellen, wer in Sachen Musiktheater den Weg in die Suisse romande unter die Räder nimmt.

«L’opéra, c’est la voix»

Zum Beispiel dieser Tage, da Giuseppe Verdis «Simon Boccanegra» an der Opéra de Lausanne läuft und gleichzeitig in Genf, in der temporären Holzbox der Opéra des Nations, «Don Giovanni» von Wolfgang Amadeus Mozart in Szene geht. «L’opéra, c’est la voix» – die Maxime, unter der Eric Vigié im Herbst 2005 seine Direktion an der Oper Lausanne antrat, gilt dort bis heute. «Simon Boccanegra» steht ganz im Zeichen einer attraktiven Besetzung. Überragend die Erscheinung des immerhin sechzigjährigen Roberto Frontali in der Titelpartie. Hochemotional, souverän in den Details der musikalischen Formung und mit einem Timbre von glänzendem Metall gestaltet er die Figur des zum Dogen gewordenen Piraten, der die auseinanderstrebenden Kräfte in der Gesellschaft von Genua zu binden versucht und das mit dem Leben bezahlt.

Ihm gegenüber stehen George Andguladze, der als Fiesco einen profunden, bisweilen allerdings etwas röhrenden Bass einbringt, Benoît Capt als der Bösewicht Paolo und vor allem der junge Baske Andeka Gorrotxategi, der als Gabriele Adorno mit seinem biegsamen, höhensicheren Tenor den Liebhaber ebenso packend gestaltet wie den politischen Widersacher. Im Epizentrum der Emotionen schliesslich die ebenfalls junge Mexikanerin Maria Katzarava, die mit herausragender italienischer Technik und einem fabelhaften Ambitus die Amelia gibt. Ein limitiertes Budget, wie es die Oper Lausanne kennt, muss nicht unbedingt auf die vokale Qualität durchschlagen, so der Befund des Abends.

Jenseits des vokalen Lauts beginnen jedoch die Schwierigkeiten – und das in beiden Produktionen. Besonders krass bei «Simon Boccanegra», denn am Pult des vorzüglich klingenden Orchestre de Chambre de Lausanne stand nicht wie angekündigt Stefano Ranzani; der musste wenige Stunden vor Vorstellungsbeginn notfallmässig ins Spital eingeliefert werden. An seine Stelle trat der Chordirektor Salvo Sgrò, der seine Sache an sich hervorragend machte – als ein echter maestro concertatore, der zu stimmigen Tempoverläufen fand –, der das im Graben notwendige Feuer jedoch nicht so recht zu entfachen vermochte. Ähnlich die Lage beim Genfer «Don Giovanni», wo vor dem leicht gelangweilt wirkenden Orchestre de la Suisse Romande der Dirigent Stefan Soltesz mit hemdsärmligem Zugriff ein Mozart-Bild auslegt, das den Geist von vorgestern atmet. Schwerer Mischklang mit geringer Durchhörbarkeit, eine bisweilen bleierne Langsamkeit, im zweiten Finale dagegen unerwartete Hektik – braucht es das?

Prominenz der Namen

Indessen findet auch der Genfer Abend seinen Anker in der Besetzung, und die darf füglich exquisit genannt werden. Das Grand Théâtre ist ein Haus in Spitzenposition, das welsche Gegenstück zum Opernhaus Zürich; die Kasse des Genfer Intendanten Tobias Richter denn auch ungleich besser gefüllt als jene in Lausanne – weshalb in Genf zur vokalen Qualität die Prominenz der Namen tritt. Als Don Giovanni ist Simon Keenlyside in seiner Weise unübertrefflich. Er verfügt über einen ebenso brillanten Bariton wie Ildebrando D’Arcangelo, nur blendet er nicht derart mit seinem Stimmglanz wie der Italiener, er setzt ihn vielmehr äusserst raffiniert ein – und ist ausserdem ein grossartiger Schauspieler.

Roberto Frontali in der Titelrolle von Verdis «Simon Boccanegra» mit dem Chor der Opéra de Lausanne (Bild: Alan Humerose / PD)

Roberto Frontali in der Titelrolle von Verdis «Simon Boccanegra» mit dem Chor der Opéra de Lausanne (Bild: Alan Humerose / PD)

Mit ihrem einzigartigen Timbre, verhaucht mag man es nennen oder verschleiert, versieht Patrizia Ciofi die leicht etwas steif wirkende Donna Anna mit berührendem menschlichem Profil, während die Senkrechtstarterin Myrtò Papatanasiu der Donna Elvira jede Hysterie nimmt, ihr dafür durch differenzierten Einsatz des Vibratos beträchtliche erotische Ausstrahlung verschafft. Spielfreudig, wie es sich für diese Partie gehört, David Stout als Leporello, während sich bei Ramón Vargas (Don Ottavio) die Zeichen der Zeit zu melden scheinen. Als Commendatore ist Thorsten Grümbel ein alter Mann, kein Donnerer aus dem Jenseits – so kann man es anlegen. Mehr Aufsehen erregt, neben Michael Adams als Masetto, die Zerlina von Mary Feminear, einer Sängerin aus dem hauseigenen Opernstudio.

Fehlanzeige: Regie

An beiden Abenden gleichermassen bescheiden bleibt das Szenische; von einer theaterwirksamen Ausgestaltung der einzelnen Figuren kann weder hier noch dort die Rede sein. Bei «Simon Boccanegra» in Lausanne schuf Arnaud Bernard, ein Schüler von Nicolas Joël, ein Bühnenbild, das einerseits einen schwer kitschverdächtigen Blick in die Weite des Meeres und die Farbenpracht eines Sonnenuntergangs offeriert und das andererseits Theatermaschinen mit ihren Zahnrädern, ihren Seilen und ihren Winden zeigt, ein ohne Zweifel verdienstvoller Hinweis auf die politische Maschinerie, die Verdis Stück exponiert.

Ist hier nichts von einem Regisseur zu spüren, so tat David Bösch im Genfer «Don Giovanni» des Guten zu viel. In dem heruntergekommenen Theatersaal von Falko Herold versucht er auf Teufel komm raus, das Buffoneske zu unterstreichen – und verfehlt die nächtliche Endzeitlichkeit des Stücks vollkommen. Oft kommt es auch zu plumpen Show-Effekten wie in der Champagner-Arie. Und dass zu «Là ci darem la mano» nach Pop-Manier gewippt wird, hat gerade noch gefehlt.