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»Il prigioniero«, Lester Lynch (Der Gefangene). Foto: © Jochen Quast
»Il prigioniero«, Lester Lynch (Der Gefangene). Foto: © Jochen Quast
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Allzu schöne Vernichtungen – Strawinsky und Dallapiccola an der Semperoper

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Igor Strawinskys Opern-Oratorium „Oedipus Rex“ nach Sophokles‘ Tragödie und Luigi Dallapiccolas „Il Prigioniero“ („Der Gefangene“) sind eine ganz starke Kombination. Nach ihren Regie-Erfolgen mit Henzes „Gisela!“ und „We come to the River“ kommt Elisabeth Stöppler an die Semperoper Dresden zurück und gewinnt bei Dallapiccola eine weitaus höhere Intensität als bei Strawinsky. Ein eindringlicher, wenn auch zu runder Abend mit einem phänomenalen Solisten- und Chorensemble, angeführt von Claudia Mahnke und Lester Lynch.

Wie sieht Schicksal heute aus? Ganz genau: Wie ein gewaltiges Datennetz, in dem niemand und nichts unentdeckt bleibt. Also reißt Oedipus nach der Bewahrheitung der Orakelsprüche von Vatermord und seiner Ehe mit der eigenen Mutter die Serverkabel aus den Computern und Monitoren, die sein Bild nach den Katastrophen übertragen. Schande und Selbstblendung sollen nicht ins Netz, nachdem die kinobewährte Catrin Striebeck als Sprecherin von Jean Cocteaus Zwischentexten am Beginn erst programmierend an den Strippen zieht und damit auch einige LED-Säulen zum dekorativen Strahlen im schwarzen Raum bringt. Das ist die Macht des Schicksals in ihrer banalsten Ausprägung, deren Sachwalterin im glänzenden Hosenanzug präsentiert einen Look irgendwo zwischen Las Vegas und Mondbasis Alpha 1. Noch ein Schritt weiter und man hätte aus Strawinskys und Cocteaus Opern-Oratorium, in dem sie 1927 die gewaltige Tragödie des Oedipus in ihrer vollen seelischen Grausamkeit verdichten wollten, zur virtuellen Seifenoper gemacht. Doch soweit kommt es dann doch nicht. 

Bis zum Ende sind die Figuren der attischen Tragödie mit Gesellschaftskleidung von schlichter Eleganz (Frank Lichtenberg) wirkungsvoll arrangiert. Der hier etwas zu platt-selbstgefällige Schnösel Oedipus mit einer phänomenalen gesanglichen Durchdringung, die viel mehr Relieftiefe hat als die Bühnenfigur (Stephan Rügamer). Creon, ein bebrillter, undurchschaubarer Stratege mit Handschuhen, der also keine Spuren hinterlässt (gekonnt unauffällig: Markus Marquardt). Der die Entdeckung der Zusammenhänge beschleunigende Seher Teiresias wird nicht als loyaler 68er, sondern durch die kantabel und dabei klar umrissene Charakterisierung von Kurt Rydl zum Ereignis. Doch sie alle, auch den Hirt (Tom Martinsen) und den Boten (Matthias Henneberg), überstrahlt die stimmlich wie szenisch souveräne Claudia Mahnke. Sie erhält von Elisabeth Stöppler als einzige jene menschliche Tiefendimension der Tragödie, die andere im ersten Teil des Abends nicht erreichen. Der Sprung von hinfälliger Selbstgewissheit in das aktive Nichtverstehen-Wollen bis zu dem Punkt, an dem Iokaste nur noch verkrampft das Gegenteil von dem artikuliert, was sie weiß, sind großartiges und psychologisch packendes Musiktheater. Wenn Mutter Iokaste und Sohn Oedipus als königliches Paar auch in körperlicher Vertrautheit gezeigt werden und Iokaste in Oedipus an seinen durchstoßenen Fersen den Sohn unausweichlich erkennen muss, gelingen Elisabeth Stöppler Momente, die über den illustrativen Gestus der ersten Szenen bezwingend hinauswachsen.

Daran hat der vom stellvertretenden Chordirektor Cornelius Volke in beiden Teilen klangsatt und textverständlich vorbereitete und mit dem Kammerchor Dresden verstärkte Staatsopernchor einen großen und umfangreichen Anteil. Egal ob als irritierte graue Masse und halbnackte Lemuren der Vergangenheit in „Oedipus“ oder als trügerische Freiheitsboten in „Der Gefangene“: An diesem Abend zeigt sich der Chor im Einklang von musikalischer Fülle und innerer Spannung.

Nach der Pause polarisiert Annika Haller die Schwärze des griechischen Theben durch den Wechsel in ein aseptisch weißes Raumgebilde mit einer Glasfläche, die das schöne Hufeisenrund des Zuschauerraums am Ambiente inquisitorischer Psychofoltern spiegelt. Steril und glatt wirkt das wie ein Gedächtnis einer gelöschten physischen Festplatte, die das Ende des namenlosen Gefangenen vorweg nimmt. Körperliche Masse und psychische Zerbrechlichkeit bringt der klangmächtige Bariton Lester Lynch zur perfekten Synthese. Mit ihm vokal und spielerisch auf Augenhöhe agiert die fabelhafte Tichina Vaughn als Mutter, die Sorge und Angst hinter beeindruckender Selbstbeherrschung verbirgt. Wie in Busonis „Doktor Faust“ vor einem Jahr ist hier Mark Le Brocq als Großinquisitor und Kerkermeister der gleißend glatte Widerpart Lester Lynchs. Immer wieder öffnet sich die Glaswand und gibt den Blick frei auf hereindringende Chormassen, die dem Gefangenen die Freiheit verheißen, oder zu phantastisch prächtigen Papageien aufgeputzte Komparsen, die zeigen, wie sich dieser in der öden Haft die Natur fabuliert. Hier ist Elisabeth Stöppler ganz dicht an der bitterbösen Doppelbödigkeit der literarischen Quellen Dallapiccolas und dessen Ringen um sein Werk, das den Vernichtungswahnsinn der totalitären Systeme im Zweiten Weltkrieg aufgreift.

Auch in diesem zweiten Teil zeigt sich das unerbittliche Schicksal, das dem Gefangenen keine Chance des Entkommens lässt, in einer öffnungslosen Raumsituation. Und auch diesmal wird bestechend geschmackssicher ästhetisiert. Trotz der bluttreibenden Selbstblendung des Oedipus und trotz der traumatisch bedingten Krampfanfälle des Gefangenen erzählt der visuelle Rahmen von menschlichen Katastrophen, die in ihrem sterilen Ambiente wie Fremdkörper wirken. Leid und Raum stehen in keinerlei Beziehung zueinander.

Nach Ulf Schirmers schönheitstrunkener Deutung von Bergs „Lulu“ vor zwei Wochen an der Oper Leipzig gewinnt man auch bei der unter Erik Nielsen kaum schärfende Turbulenzen zeigenden Sächsischen Staatskapelle den Eindruck, als suche man in der Moderne jetzt vor allem kulinarische Opulenz. Nielsen agiert bühnenaffin und mit musikdramaturgischem Fingerspitzengefühl. Das hat alles beeindruckendes Format, bringt aber nichts zur Erschütterung. Trotz der sehr guten bis starken Leistung der Sängerdarsteller liegt über dem Doppelabend ein milchseidene Folie, mehr schön als steril. Diese ist so stark, dass jede der beiden Partituren ihrer harten Komponenten beraubt und damit eine entscheidende Dimension in der Fülle des Wohlklangs versenkt wird.

  • Weitere Vorstellungen: 3., 6., 8. und 11. Juli 2018

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