Festspiele St. Gallen: Zuweilen schläft sogar Maestro Puccini

Opernvergnügen unter freiem Himmel geniessen und dabei Trouvaillen entdecken: Die St. Galler Festspiele machen es Jahr für Jahr möglich. Diesmal haben sie sich mit Giacomo Puccinis Frühwerk «Edgar» allerdings eine harte Nuss vorgenommen.

Felix Michel, St. Gallen
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Wo Phantasiewesen à la Hieronymus Bosch die Bühne stürmen: Giacomo Puccinis Oper «Edgar» an den Festspielen St. Gallen. (Bild: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Wo Phantasiewesen à la Hieronymus Bosch die Bühne stürmen: Giacomo Puccinis Oper «Edgar» an den Festspielen St. Gallen. (Bild: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Meister fallen nicht vom Himmel – und wenn sie es doch tun, kann es schmerzhaft enden. Vielleicht lag es am Erfolg von Giacomo Puccinis unbeschwertem Opernerstling «Le Villi», dass er sich für seine zweite Oper etwas zu viel vornahm – und sich gemeinsam mit seinem Librettisten Ferdinando Fontana gründlich verrannte. «Edgar» heisst das Resultat und spielt, der damaligen germanophilen Mode folgend, ebenfalls in grauer Vorzeit nördlich der Alpen.

Die Schwäche der Handlung, destilliert aus dem dramatischen Gedicht «La Coupe et les lèvres» von Alfred de Musset, deutet sich bereits in den unfreiwillig komischen Namen der Hauptfiguren an: Der wenig heroische Titelheld Edgar ist hin- und hergerissen zwischen einer Fidelia und einer Tigrana. Puccini selbst war sich der Probleme bald bewusst und arbeitete den dreistündigen Vierakter über zwei Jahrzehnte immer wieder um, bis ein deutlich kürzerer Dreiakter übrig blieb – ohne dass die Raffung der dramatischen Schlüssigkeit zuträglich gewesen wäre. Die glücklose Werkgeschichte macht den Fall aber auch reizvoll: Im dramaturgischen Ringen deuten sich die späteren Lösungen an, und musikalisch spannt das Werk den Bogen von Puccinis Studienzeit bis zur Orchestrierungskunst der «Butterfly».

Opulentes Bildvergnügen

So ist es denn von vorneherein zu begrüssen, dass sich die St. Galler Festspiele – offenbar zum ersten Mal in der Schweiz – an die Oper wagen. Und zwar gleich als Open-Air-Produktion im Klosterhof, die traditionell Rückgrat und Eröffnung der Festspiele bildet. Dabei fügt sich «Edgar» ganz gut in die Reihe von Trouvaillen ein, mit denen in den vergangenen Jahren stets überzeugend der Spagat zwischen breitentauglicher Süffigkeit und Kunstanspruch gemeistert wurde.

Die Ambition, zugänglich, aber nie simpel zu sein, zeichnet auch die Inszenierung aus, die es bei «Edgar» freilich alles andere als leicht hat. Mit so viel Klischiertem und so wenig Erzähllogik konfrontiert, lesen der Regisseur Tobias Kratzer und der Bühnenbildner Rainer Sellmaier das Stück kurzerhand als «allegorisches Mysterienspiel». Dem mag zwar eine etwas eigenwillige Auffassung sowohl der Allegorie als auch des Mysteriums zugrunde liegen, die sich ja beide nicht auf Klischee und Unverständlichkeit beschränken, sondern auf Sinnstiftung zielen. Aber der beherzte Zugriff des Produktionsteams ist nachvollziehbar und in vielem wohltuend.

Auch die Klosterkirche spielt wieder mit: Szene aus «Edgar» von Giacomo Puccini in St. Gallen. (Bild: Keystone / Eddy Risch)

Auch die Klosterkirche spielt wieder mit: Szene aus «Edgar» von Giacomo Puccini in St. Gallen. (Bild: Keystone / Eddy Risch)

Insbesondere zeitigt er spektakuläre Folgen im Bühnenbild: Denn Sellmaier zaubert die Bildwelt Jan van Eycks (im ersten Akt) und Hieronymus Boschs (im zweiten) als aufwendige tableaux vivants vor die barocke Fassade der Stiftskirche – alleine dafür lohnt sich bereits die Reise nach St. Gallen. Und wer liesse sich nicht von der fast kindlichen Begeisterung anstecken, Boschs bizarre Phantasiewesen aus einer von Theaternebel dampfenden Kluft kriechen zu lassen!

Durch diese starke Bebilderung gewinnt Puccinis allzu deutliche Unterscheidung der Sphären von Fidelia und Tigrana – die überdies ihre allzu leicht erkennbaren Vorbilder in Wagners «Tannhäuser» und «Parsifal» haben – tatsächlich eine inspirierte szenische Qualität. Nicht zuletzt fügt sich die frühneuzeitliche Bildsprache erstaunlich gut ins Jugendstilgepräge von Puccinis Orchesterklang. Die Kehrseite dieses Einfalls ist, dass der dritte Akt ohne vergleichbar griffige Konkretionen auskommen muss. Soll der Bühnenhimmel, der zuerst von einer Sonne, dann von einem Halbmond gekrönt worden ist, gleichsam astronomisch weiterdeklinierend eine Sonnenfinsternis (Licht: Michael Bauer) zeigen? Die damit angedeutete nihilistische Schwärze passte zwar zum tendenziell zynischen Bühnengeschehen. Aber der Idee, am Ende den öffentlichen Hass auf Tigrana ins zuvor (sinn-)entleerte Bühnenzentrum zu stellen, fehlt dann doch das dramaturgisch Zwingende, aus der erst eine künstlerische Aussage entstünde (an der es dem Werk aber ohnehin mangelt).

Open-Air-Glück

Musikalisch immerhin ist der dritte Akt der reichste. Schönheiten wie die Klage der Fidelia entschädigen für vieles zuvor. Katia Pellegrino, das vokale Glanzlicht des Abends, kann ihren oft in der Bruststimme fundierten und darum alles andere als eindimensional-unschuldigen Sopran hier besonders vielschichtig entfalten. Auch die Mezzosopranistin Alessandra Volpe als Tigrana schöpft aus den Mitteln der vokalen Darstellung wesentlich raffiniertere Verführungskraft als aus dem fleischfarbenen Trikot, das im ersten Akt alsbald fallenden Hüllen entsteigt.

Die liebende Frau bleibt bei Puccini fast immer auf der Strecke: «Edgar» an den Festspielen St. Gallen. (Bild: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Die liebende Frau bleibt bei Puccini fast immer auf der Strecke: «Edgar» an den Festspielen St. Gallen. (Bild: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Tadellos die bewährte Festspiel-Chormischung aus St. Gallen, Prag und Winterthur (Einstudierung: Michael Vogel). Passend besetzt auch die Männerrollen: Marcello Giordani als Edgar verwirklicht die Mischung von lyrischer Beweglichkeit und gelegentlichen Heldentönen souverän. Besonders im voll klingenden, aber blitzsauberen Parlando zeigt er seine ganze Erfahrung; sporadisch beigemischte klischierte Seufzer zeugen letztlich von einer gewissen Ratlosigkeit, wie der Rolle überhaupt plausible Darstellung zukommen könnte. Der Bariton Evez Abdulla als Frank gleicht seine Rolle – dem Regiekonzept folgend – auch stimmlich der Hauptfigur an; dass er im ersten Akt etwas mit dem Rubato knausert, liegt wohl auch an der fehlenden Nähe zum unter der Tribüne versteckten Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung von Leo Hussain. Diesen geringfügigen Open-Air-Abstrichen stehen dafür atmosphärische Glücksmomente gegenüber: Wenn zum Klarinettensolo des zweiten Akts die Dämmerung einsetzt, ist dies von einer szenisch-musikalischen Schlüssigkeit, die anders nie zu gewinnen wäre.

Orient und Okzident

fmi. Mit leichter Hand nehmen die St. Galler Festspiele die Fäden aus Puccinis Opernstoff im weiteren Programm auf: Musik aus dem frankoflämischen Raum nach 1300 verweben sie zwanglos mit den Assoziationen von sinnlichem Orient und frommem Okzident zu einem spartenübergreifenden Festspielprogramm ganz eigener Handschrift – intelligent, aber nie bloss intellektuell. So haucht z.B. das formidable Basler Ensemble La Morra am 3. Juli Musik aus besagter Zeit einfallsreich Leben ein, und auch am 6. Juli kommen Alte Musik-, Klassik- und Jazz-Affizierte gleichermassen auf ihre Rechnung, wenn das bunt besetzte Euskal Barrokensemble sich Manuel de Fallas «Amor brujo» anverwandelt. In der Kathedrale zeigt Beate Vollack mit der Tanzkompanie ihr Spannung versprechendes getanztes Stationentheater «Peregrinatio» (ab 4. Juli); festlich beschlossen werden die Festspiele am 12. Juli u.a. mit Leonard Bernsteins auch nicht eben oft gehörter 1. Sinfonie «Jeremiah».

Aufführungen und Festspielprogramm unter www.stgaller-festspiele.ch