Der Mensch singt wenn er fröhlich ist, um sich zu vergnügen, zu feiern oder um seine Gefühle auszudrücken. In der Oper wird zu jeder Gelegenheit gesungen. Das hat etwas Unnatürliches. George Benjamin hat mit Written on Skin mit dieser jahrhundertealten Tradition nicht gebrochen, seiner Verwunderung über die Konvention aber dadurch Ausdruck gegeben, dass er die Regieanweisungen mitsingen lässt. Die Sänger singen ihren Part, in dessen Text ihr Handeln in der dritten Person beschrieben wird. Das hilft bei dieser konzertanten Aufführung beim Holland Festival ungemein, da der mitgesungene Kontext – in Szene 6 singt Agnès „Woman-alone-night” – sofort deutlich ist. Gleichzeitig kreiert dies einen Abstand über den die Sänger ihre Rolle immer wieder neu finden müssen. Durch das Exemplarischmachen der Theaterkonvention wird die Glaubwürdigkeit der gespielten Personen noch verstärkt. Ich habe selten eine so emotional nachvollziehbare Opernhandlung erlebt. Das liegt sicher auch an dem archetypischen Thema, der energiereichen Sprache und köstlichen Wortwahl des britischen Dramatikers Martin Crimp, vor allem aber auch an der ereignisreichen Musik von George Benjamin.

Written on Skin beschreibt eine Dreiecksbeziehung mit tragischem Ausgang. Sie basiert auf einer Erzählung von Guillem de Cabestanh (1162-1212), einem Troubadour aus der Provence. Alle Figuren werden von ihren Emotionen bis zum bitteren Ende beherrscht. Ihr unausweichliches Schicksal ist dem Publikum schon früh deutlich. Es hofft wider besseren Wissens auf Auswege aus dem Dilemma und verstrickt sich dadurch immer mehr in die Handlung.

Zu Beginn der Oper nimmt uns ein Chor aus drei Engeln mit ins 13. Jahrhundert. Der reiche Großgrundbesitzer (The protector, von Audun Iversen gesungen) will seinen Wohlstand der Nachwelt überliefern und bestellt bei einem Künstler (The boy, Tim Mead) ein Buch, in dem er mit seiner Familie im Paradies lebt und seine Feinde in der Hölle schmoren. Da die Herstellung eines Buches bis 1450, in der Zeit vor der Erfindung der Buchdruckkunst, eine sehr zeitaufwendige Angelegenheit war, wohnt der Illustrator währenddessen im Hause seines Auftraggebers. Dessen Frau Agnès (Georgia Jarman), die er als seinen Besitz ansieht, verliebt sich in den jungen Mann, zwingt ihn später, ihr gemeinsames Liebesverhältnis in seinem Buch zu beschreiben, um sich damit an ihrem Mann für seine Demütigungen zu rächen („Let him cry blood”).

Getragen wurde dieser Opernabend von einem vollblütigen Sängerensemble und dem außergewöhnlich engagiert spielenden Mahler Chamber Orchestra unter Leitung von Lawrence Renes. Das MCO ließ die raffinierte Partitur von Benjamin in allen Facetten zu ihrem Recht kommen. Benjamin schreibt viele unterschiedliche und sehr spezifische Klangkombinationen unter Zuhilfenahme eines Arsenals von außergewöhnlichen Instrumenten vor. Neben einer Glasharmonika und einer Bassviola da Gamba zur Einleitung und Untermalung der Liebesszene werden auch Kieselsteine, Steeldrums und Mini Tablas eingesetzt. Eine riesige Basstrommel machte zusammen mit gezupften Bässen Herzklopfen hörbar, die zwei Banjos ließen sich als Minnesanglauten interpretieren und das Orchester spielte mit Bläsern und Streichern im Pizzicato schwungvolle Renaissancerhythmen. Ein ergreifendes Fagottsolo beschrieb unmissverständlich Eifersuchtsgefühle. Die Stille des Entsetzens im dritten Akt wurde von der Bassklarinette eindrucksvoll eingeleitet. Das Orchester schrie, winselte und schmeichelte mit einer Energie und Aufrichtigkeit, die dieser Musik angemessen war. Nicht umsonst hatte Benjamin sich gerade dieses Orchester für die Uraufführung von Written on Skin 2012 gewünscht.

Georgia Jarman verkörperte eine intensive Agnès, deren Selbstbewusstsein im Laufe der Handlung wie von selbst wuchs. Ihre makellose Stimme schmeichelte sich ins Ohr und wirkte selbst bei Gewaltausbrüchen strahlend schön. Tim Meads Countertenor ist eine goldene Stimme. Sowohl als Engel 1 als auch als Künstler war er klangtechnisch und musikalisch ein Genuss. Zusammen mit Jarman sorgte er für die schönsten Momente in dieser Oper. Iversen war schauspielerisch und stimmlich am meisten gefordert und sang ebenso makellos wie die zwei Engel Kristina Szabó und Robert Murray, welche als Chor auch eine Portion Humor in die Handlung brachten. Als Schwester von Agnès wusste sich Szabó in der fünften und neunten Szene in sehr irdischem Licht zu profilieren.

Die Aufeinanderstapelung von Grausamkeiten am Ende stieß nicht ab, sondern schaffte nach den intensiv miterlebten Gefühlen und der dramatisch aufgebauten Spannung Erleichterung. Die radikale Zerstörung der Liebenden scheint der einzige Ausweg. Aber auch hier haben Crimp/Benjamin einen die Konventionen sprengenden Ausweg gefunden. Als Teil des Engelchores beschreibt der Künstler in seiner Schlussarie den Tod von Agnès. Er besingt, wie er sie mitten im Fall vom Turm gemalt und damit unsterblich gemacht hatte. Hiermit ist nicht nur der Kunst und ihrer Rolle als Trostspenderin ein musikalisches Denkmal gesetzt, sondern glätten sich auch auf wunderbare Weise die Wogen einer sehr aufwühlenden Opernaufführung.

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