Faszinierende Opernrarität an den Festspielen: Das Drama des unentschlossenen Mannes

Puccinis «Edgar» auf dem Klosterplatz begeistert. Die intelligente, symbolreiche Inszenierung enthebt den Stoff jedes vordergründigen Belcanto-Kitschs. Umso mehr können sich die wunderbaren Opernstimmen vor einer suggestiven Kulisse entfalten.

Martin Preisser
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Startszene: Die Chöre scheinen dem Bild von Jan van Eyck zu entsteigen. (Bild: Tanja Dorendorf/T + T Fotografie)

Startszene: Die Chöre scheinen dem Bild von Jan van Eyck zu entsteigen. (Bild: Tanja Dorendorf/T + T Fotografie)

Puccini hat eine Freundin vor seinem «Edgar» gewarnt. Nachdem das Stück 1889 an der Mailänder Scala durchgefallen war, hat sich der Komponist, obgleich er immer wieder Veränderungen vornahm, nicht wirklich mehr für seine zweite Oper interessiert. Vielleicht war man dieses immer gleichen Eifersuchtssujets à la Carmen damals auch müde. Jetzt das Gegenteil: «Edgar» als Schweizer Erstaufführung auf dem Klosterplatz. Tobias Kratzer inszeniert das Stück konsequent fern von blosser Liebesstory oder Eifersuchtswirrwarr und gibt ihm dadurch Kraft und Nachhaltigkeit zurück.

«Wir sind alle Edgar» sagt der deutsche Regisseur, der nächstes Jahr in Bayreuth Wagners "Tannhäuser" inszeniert. Kratzer fasst diesen Puccini von Beginn weg als Drama um die Macht, aber auch um den Zerfall von Moral auf, zwischen der Verführbarkeit des Menschen und seinen Ängsten davor. Leiden an der Enge und Sehnsucht nach Freiheit und Selbstentfaltung: In diesem Spannungsfeld auch unterschiedlicher Lebensentwürfe bewegt sich diese so intelligent wie stringente
St. Galler Inszenierung.

(Bild: Urs Bucher)
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CVP-Nationalrat und Olma-Direktor Nicolo Paganini mit seiner Frau. (Bild: Urs Bucher)
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Bühnenbild und Regie perfekt Hand in Hand

Mit Bühnenbilder Rainer Sellmaier verbindet Kratzer eine lange gemeinsame Karriere. Auch der Karrierestart glückte vor zehn Jahren in Graz, als beide, in andere Figuren verkleidet, alle Preise für einen "Rigoletto" abräumten.

Selten hat man eine Opernrarität auf dem Klosterplatz gesehen, die von einer traumwandlerischen Geschlossenheit von Bühnenbild und Regieideen lebt. Kratzer lässt nicht einfach vor einem Bühnenbild spielen. Und Sellmaier illustriert nicht einfach. Alles geht wunderbar Hand in Hand. Da wird nicht mit schnellen Bildprojektionen gearbeitet. Das Bühnenbild lebt, ist in Bewegung. Kunstgeschichte entfaltet seine Kraft, um Opernstoff zu erzählen. Beeindruckend!

Küsse der Wollust von der Orgel begleitet

Im ersten Akt ist es das Lamm auf dem Genter Altar von Jan van Eyck, das die Inszenierung vorantreibt. Symbolisch steht dieses Bild in der Oper, die 1302 in Flandern spielt, für eine noch festgefügte Werteordnung. Wenn die Hure Tigrana, für die man bis zum Schluss immer mehr Sympathie entwickelt, am Altar Wein ausschüttet, wenn sie von den "Küssen der Wollust" von Orgelmusik begleitet singt, dann gerät in einer skurril verfremdeten Situation einer Messe einiges ins Wanken. Spätestens hier wird es der Abend von Alessandra Volpe als Tigrana, die auf dem Altar tanzend, einen ersten grandiosen Auftritt hinlegt.

Puccinis Musik steht mit einem Bein in der italienischen Tradition. Man hört noch Verdi, aber auch ein wenig Bizet heraus. Und doch gibt es viele Stellen, die ganz eigener Puccini sind, die durchaus in seinen späteren Meisteropern Platz finden könnten. Das Sinfonieorchester St. Gallen unter Leo Hussain steuert einen wunderbar fliessenden, wogenden, klanglich ausgewogen Musikteppich bei.

Abgründe unter dem Altar tun sich auf

Diese Inszenierung spielt konsequent das Thema Zerrissenheit aus, Glaubenszweifel statt Liebeskitsch. Im zweiten Akt dann Bildwelten aus Hieronymus Boschs «Garten der Lüste». Bühnentechnisch grossartig, wie sich die Erde wie eine klaffende Vulkanwunde auftut. Wie unter dem Genter Altar plötzlich Abgründe sichtbar werden. Als «Lustgärtner und Höllenforscher» hat Benedikt Erenz Bosch bezeichnet. Zwischen Lust und Hölle: Auch hier verliert die Inszenierung keine Zeit mit blossen Effekten, sondern zeigt den Helden Edgar sofort wiederum mit sich nicht im Reinen, auch wenn er von der wollüstigen Szenerie angezogen ist. Hier entstehen durch die hervorragende Führung der Figuren vor einem bewegten Renaissancebild suggestive Szenen, die diese Inszenierung ohne Unterlass auszeichnen.

Erstmals ein Pferd auf dem Klosterhof

Mit Lucky tritt im dritten Akt von "Edgar" ein 23jähriges pensioniertes Militärpferd auf, das den Leichenwagen zieht. Unbeeindruckt von der Szenerie und der Musik, die in diesem Moment gerade kräftig anschwillt, macht Lucky seine Runde auf dem Klosterhof. Lucky gehört dem Häggenschwiler Landwirt Anton Hugentobler. Das Pferd sei für den Auftritt wegen seines ruhigen, zuverlässigen Charakters geeignet, sagt sein Besitzer. Damit das Pferd auf der engen Rampe zur Bühne nicht rutscht, hat Hugentobler die Hufeisen mit speziellen Stahlstollen beschlagen. (sda)

Es ist gerade der Verzicht auf Lovestory und Eifersuchtskitsch, mit dem die Regie den wunderbaren Arien und perfektem italienischen Belcanto einen ganzen eigenständigen, losgelösten Raum geben kann. Vor einer magischen Kulisse bewundert man die Strahlkraft und Intensität von Marcello Giordani als Edgar, die Stringenz und Wärme von Evez Abdulla als Gegenspieler Frank. Michail Ryssov als Gualtiero mit rundem Timbre gibt mit Ruhe und Umsicht den Vater Edgars. Alessandra Volpe gibt eine beeindruckende Tigrana von betörender Intensität. Katia Pellegrino als mildere Fidelia steht ihr in mehr lyrisch-hintergründiger Ausstrahlung in nichts nach.

Verlierer sind die schwachen, zerrissenen Männer

Im dritten Akt gibt es kein Bühnenbild mehr. Alles löst sich auf, die Moral versinkt. Edgar und Frank schmieden einen perfiden Plan, sie sind die Verlierer in dieser Oper, auch wenn sie sich noch in Ruhm und militärische Ehre flüchten wollen. Edgar und Frank symbolisieren auch diese Schwäche, Unentschlossenheit und Zerrissenheit des Mannes. Wie er zwischen seinem Verlangen nach der Heiligen und der Hure steht, das spitzt die Inszenierung konsequent bis zum Ende des Dramas hin zu. Kein Happy End, aber auch kein blutrünstiger Knalleffekt: Das Licht erlischt, bevor die Dorfbewohner den ersten Stein auf Tigrana werden können.

Schlank und elegant führt die Regie die vier Theaterchöre aus St. Gallen, Winterthur und Prag (Einstudierung: Michael Vogel) sowie den Kinderchor des Theaters St. Gallen über die Bühne. Dass auch die Figur des Geiers (Tänzer: David Schwindling) konsequent symbolisch und faszinierend aufgeladen ist, ist nur ein Mosaikstein einer der besten Inszenierungen auf dem Klosterplatz seit langem.

Fazit: Schönste, kurzweilige Italianità ohne Opernklamauk oder oberflächliche visuelle Verführungen, dafür eine Deutung, bei der Giacomo Puccini die Freundin nicht vor seinem ersten Meisterwerk hätte warnen müssen.

Hinweis

3., 6., 7., 11. und 13. Juli, 21 Uhr, Klosterhof; stgaller-festspiele.ch