Kabinettkäfer in der Konservenbüchse Welt
Die Uraufführung von Toshio Hosokawas und Marcel Beyers Oper „Erdbeben. Träume“ in Stuttgart.
In Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ steht weitgehend alles, was man über die Menschen im Einzelnen und im Kollektiv wissen muss. Dass Mitleid und friedfertiges Betragen möglich, Gleichgültigkeit, Egoismus und Gewalt auf Dauer wahrscheinlicher sind. Dass man sich hinterher eventuell geniert, wenn auch nicht im „Erbeben in Chili“, wo sich – extra noch einmal nachgeschaut – keiner geniert.
E in über den ursprünglichen Text hinausgehendes, diesen aber in seinem innersten Kern zusammenhaltendes Musiktheater mit dem Titel „Erdbeben. Träume“ schließt jetzt die Saison an der Oper Stuttgart ab. Auch ist die Auftragsarbeit die Abschiedsproduktion des Intendanten Jossi Wieler und seines Dramaturgen Sergio Morabito. Es will einem kein Team einfallen, das seine Ära – sieben krass erfolgreiche Spielzeiten – mit einer so tiefernsten, das menschgemachte Leid so glasklar in den Saal rufenden Inszenierung beschlossen hätte. Denn schon bei Kleist folgt der Naturkatastrophe das Morden und übertrumpft das gleichmütige Beben nicht quantitativ, aber qualitativ in seinem Grauen. Neben einem der Gemordeten liegt nun eine Kippa, kurz zu sehen und aufgehoben, bald wieder weggelegt.
D as seinerseits Aktualitäten unverhüllt aufgreifende, dabei poetische Libretto – in dem Glatzköpfe eine Ohnmächtige wegräumen, in dem Menschen wie Kabinettkäfer in der Konservenbüchse Welt festsitzen – ist von Büchnerpreisträger Marcel Beyer. Die Musik ist von dem japanischen Komponisten Toshio Hosokawa, eine sanfte, dezente Musik. Die elektronische Unterstützung lässt sie manchmal raffiniert durch den Zuschauerraum jagen, es tropft gefährlich unter den Rängen. Die Menschenmasse atmet und flüstert, das Beben ist bloß ein Handtrommeln (das die Arglosigkeit der für die Oberflächenbewohner gleichwohl verheerenden Bewegungen hörbar macht), die Einzelnen singen kleine Arien und Duette, der Chor singt einen Choral. Auch wenn es insofern nicht erstaunt, dass Chor, Solisten und Staatsorchester Stuttgart unter der Leiter des ebenfalls scheidenden GMD Sylvain Cambreling mit der Partitur zurechtkommen, ist es eine glanzvolle Leistung.
Der Schrecken tritt vor uns, aber nicht in greller Hässlichkeit, sondern in einer Oper. Die Herkunft des Komponisten legt nahe, die Katastrophe von Fukushima – Natur und Menschenhand in fatalem Verein – einzubeziehen, zur Anregung reiste das Team in der Tat ins Katastrophengebiet. Anna Viebrocks Bühnenbild zeigt stark mitgenommene Betonblöcke einer Stadtlandschaft. Sanft und schlicht werden die Bahnen des Bretterbodens angehoben und gesenkt, als die Erde bebt, jedoch wird auch ein sanftes Wabern dem Menschen den Boden unter den Füßen wegziehen.
Obwohl der Text verrätselt ist (aber im Einzelnen eigentlich immer triftig, dabei unter fast vollständigem Verzicht auf Kleistsche Satzlabyrinthe), zeigt sich eine klare Struktur. Wie der zweite Titelteil andeutet, liegen die Ereignisse zurück, sind Traumbilder, gesehen, nacherlebt von der zentralen, stummen Figur Philipp: Das ist das gerettete Baby aus Kleists Erzählung, Sohn der Mordopfer Josephe und Jeronimo. Es findet in denen, deren Kind ebenfalls ermordet wurde, neue Eltern. Bei Beyer und Hosokawa scheint es aber zumindest im Traum allein auf Erden zu sein, während alle anderen als Geister und Erinnerungsfetzen vorüberziehen.
Die japanische Schauspielerin Sachiko Hara, eine starke Setzung, ist fast allgegenwärtig und prägt die zwei Stunden mit ihrer Präsenz: Naives, quicklebendiges Koboldtum verbindet sich mit einem Greisengesicht, ein Kinderkörper mit dem eines müden Gespenstes. Auch ist sie es natürlich, die die Verlagerung nach Fukushima nahelegt, das Leid auch nach Japan transportiert. Die andere Hauptfigur ist der Chor, sind die Chöre: Der Kinderchor (die „sadistischen Knaben“), der als unterkühlter Beobachter des Geschehens in der Konservenbüchse Welt auftritt. Der Opernchor, der als Menge von Einzelnen jeden Winkel besetzt halten kann, vorrückt, sich zurückzieht, in der Not improvisieren muss – von der Bühnendecke fallen neue Kleidungsstücke, die sachfremd und durchaus lustig umgewickelt werden. Wieler, Morabito und Ausstatterin Viebrock meiden hier alle Lumpentraditionen, als sollte sich das Publikum selbst dabei auf keinen Fall zu sicher sein.
Das Original-Personal, jetzt junge Eltern und Leute von heute, tritt dahinter zurück, nutzt aber seine Räume perfekt aus. Markant darunter André Morsch als Fernando, der Mann, der das Richtige tun will, oder Torsten Hofmann als sein böser – bei Kleist und in Stuttgart unverhohlen als primitiv gezeichneter – Widerpart Pedrillo.
Das Ende: Ein Abgrund von Traurigkeit.
Oper Stuttgart: 13., 18., 23. Juli.
www.staatstheater-stuttgart.de