Diese Produktion verdankt ihre Existenz einem Wettbewerb. Die Intendanz des Mannheimer Nationaltheaters suchte für die Neuinszenierung von Mozarts Don Giovanni eine besonders interessante Interpretation, die eine Deutung dieser Oper in alle möglichen Richtungen zulassen konnte. Aus über 50 Einreichungen gingen als Siegerinnen zwei junge Theatermacherinnen aus Russland hervor: die Regisseurin Ekaterina Vasileva und die Ausstatterin Soya Kobozeva.

Entstanden ist eine vor allem unterhaltsame Aufführung, die aber auch einen ungewohnten Blick auf die Oper präsentiert. Vasileva und Kobozeva erzählen die Handlung aus der Perspektive des Titelhelden. Die Frauen, Opfer von Don Giovannis Erotomanie, werden als seine Projektionen gezeigt. Was Giovanni in ihnen sieht, verdeutlicht vor allem ihr Äußeres. Donna Anna trägt einen durchsichtigen Plastikmantel über der weißen Corsage, ihr erotisch zwiespältiges Selbstbewusstsein andeutend. Bei Zerlinas Kleid sind die Brüste wie Zielscheben knallrot hervorgehoben, vielleicht weil der Cavaliere glaubt, sie besonders leicht erbeuten zu können. Elvira ist mit betont breitem, gebährfreudigem Becken ausstaffiert. Giovanni hat sie gleich nach der Geburt ihres Babys verlassen, welches sie ihm, ob im Kinderwagen oder drohend auf dem Arm, provozierend vor Augen hält: der Grund für die Flucht des rastlosen Verführers und Ausdruck seiner Angst vor zuverlässiger Bindung.

Auch die männlichen Akteure sind in ihrem Profil deutlich gezeigt. Ottavio ist mehr Held in Worten als im wirklichen Handeln. Leporello schwankt zwischen Aufmüpfigkeit und Suche nach seinem eigenen Vorteil bei der hektischen Schürzenjagd seines Herrn. Einzig dem Komtur fehlt es in dieser Interpretation an der überwältigenden magischen Macht als Repräsentant der überirdischen Gewalt, durch die Giovannis Übeltaten bestraft werden. Nur zu Beginn erscheint er als Person auf der Bühne, im 2. Akt ist er nur als Stimme aus dem Off zu vernehmen. So verschenkt das Regieteam den ungeheuren Coup de théâtre dieser Oper und deren tiefen Ernst zugunsten einer konsequent profanen Sichtweise.

Dies, aber auch die skurrilen Elemente der Inszenierung mögen der Grund gewesen sein, dass es am Schluss für Regisseurin und Ausstatterin ein mächtiges Buhgewitter gab. Die Orientierung am surrealen Slapstick-Theater des russischen Avantgardisten Daniil Charms mochten große Teile des Mannheimer Publikums nicht recht goutieren. Während mitunter die szenische Durcharbeitung, vor allem in den beiden Aktschlüssen, nicht so überzeugend gelang, kaprizierte sich die Regie vielfach auf absurde, surrealistische Details, die mal mehr (z. B. die Damenslips, welche Leporello als Beweis für Giovannis zahllose Liebschaften aus der Tasche zieht), mal weniger (eine rosa Muttersau, auf der Giovanni das Bauernmädchen Zerlina davonzieht) Witz versprühten. Dem Anliegen nach drastischer Übertreibung mag auch das Dutzend rosa Nanafiguren à la Nicki de Saint Phalle entsprungen sein, die mit überquellenden Körperproportionen die Bühne bevölkern und unter denen Giovanni am Schluss im Pool versinkt.

Doch nicht nur Giovanni geht unter, auch die anderen Personen der Oper steigen nach dem Schlussextett sogar freiwillig in eben diesen Sündenpfuhl hinab, womit der zweite (ursprüngliche Haupt-)Titel der Oper Der bestrafte Wüstling ad absurdum geführt wird. Diesen gekachelten Swimmingpool als Einheitsbühnenbild will das Regieteam als Symbol eines hemmungslosen Hedonismus verstanden wissen. Jedenfalls unter den Landleuten stößt das Motto „Hauptsache Party” denn auch auf große Begeisterung, wenn Giovanni mit „Fin ch'han dal vino” zum Fest lädt. Dass aber für alle Hauptpersonen in all dem Geschehen auch viel Tragisches liegt, lässt diese Inszenierung leider beiseite.

Ekaterina Vasileva und Soya Kobozeva haben viel gewollt, aber nicht alles überzeugend umgesetzt. Die musikalische Seite dagegen glückte an diesem Abend in vollem Maße, ja begeisterte geradezu. Das Mannheimer Opernorchester spielte bestens einstudiert, ungemein inspiriert und klangschön. GMD Alexander Soddy arbeitete die Dramatik der Musik wirkungsvoll heraus. Spannend gestaltete er die Steigerungen, betonte die wechselvolle Dynamik mit markanten Sforzati und Crescendi, bildete großartige Linien heraus. So gewann die Musik Transparenz und Volumen.

Perfekt machte den Riesenerfolg auf musikalischer Seite das großartige und homogene Solistenensemble. Publikumsliebling an diesem Abend war dem Beifall nach Amelia Scicolone als Zerlina mit zauberhafter Stimme und präsentem Spiel. Mit großer Stimme, dramatischem Ausdruck und subtiler Gestaltung in makelloser Intonation glänzte Estelle Kruger in der Rolle der Anna. Als Elvira bewies Ludovica Bello expressive stimmliche Kraft. Die extremen Sprünge gerade in ihren Arien meisterte sie brillant und war im Ausdruck als verlassene Ehefrau beileibe nicht einseitig nur die Furie, sondern brachte auch die weiche, liebende Seite dieser Frauenfigur deutlich zur Geltung.

Als Don Giovanni gab Nikola Diskić sowohl darstellerisch wie gesanglich ein überzeugendes Rollendebüt. Im stimmlichen Ausdruck passte er sich nuanciert den jeweiligen Situationen an, als einschmeichelnder Verführer, großspuriger Gastgeber oder herrischer Patron. In der vom Dirigenten höllisch schnell genommenen Champagner-Arie kamen zwar nicht alle Silben gestochen scharf, aber insgesamt sang Diskić seine Partie dennoch herausragend.

Juraj Hollý war gesanglich absolut kein blasser Ottavio. Sein elegantes Legato in „Il mio tesoro intanto” nahm neben der perfekten lyrischen Stimmfärbung für ihn ein. Da die Prager Fassung gespielt wurde, durfte man ihn in der zweiten Ottavio-Arie „Dalla sua pace” leider nicht erleben. Ein kraftvoller Leporello war Patrick Zielke, der in der Registerarie mit Ironie nicht sparte. Stimmlich machtvoll sang Sung Ha den Komtur. Als Masetto schließlich gab Philipp Alexander Mehr rollendeckend und überzeugend den tölpelhaften Bauernburschen mit stolz zur Schau gestelltem Waschbrettbauch ab.

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