Sommerfestspiele Baden-Baden : Nur der glücklos verliebte Spielleiter kennt die Wahrheit
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„Adriana Lecouvreur“ bei der Aufführung am 20. Juli im Festspielhaus Baden-Baden Bild: Andrea Kremper
Weil Anna Netrebko ausfiel, griff Dirigent Valery Gergiev zur bestmöglichen Alternative: Er führte Francesco Cileas Oper „Adriana Lecouvreur“ bei den Sommerfestspielen Baden-Baden mit spontaner Besetzung auf.
Als Retter des Baden-Badener Festspielhauses ist der Dirigent Valery Gergiev längst in die Annalen eingegangen – ohne ihn hätte der Musentempel 1998 nicht eröffnet werden können. Auch als Entdecker von Anna Netrebko liegt ihm das Publikum dankend zu Füßen. Nun sollte sein einstiger Schützling in der Titelrolle der Adriana Lecouvreur in der gleichnamigen Oper von Francesco Cilea die Sommerfestspiele an der Oos krönen – nicht ohne ihren Ehemann, den Tenor Yusif Eyvazov, den die Diva schon zur letzten Saisoneröffnung an die Mailänder Scala mitgenommen hatte. Doch beide wurden von einem Virus heimgesucht und mussten ihren Auftritt absagen.
Gergiev aber wäre nicht Gergiev, wenn er nicht auch diesen drohenden Super-GAU verhindert hätte. Ruck, zuck rief er die Solisten der St. Petersburger Inszenierung von 2017 aus dem Urlaub zurück: die umwerfende Tatiana Serjan, die mit ihrer glutvollen, leidenschaftlich-dramatischen Sopranstimme gar keine Anna-Nostalgie aufkommen ließ, aus Italien und Migran Agadzhanyan, die neue Tenorsensation, aus seiner Heimatstadt Rostow. Und wer vielleicht angesichts der Absage von Netrebko noch in Schockstarre verfallen war, verließ das Haus in dem Gefühl, der Entdeckung eines kommenden Startenors beigewohnt zu haben – am selben Ort, an dem Rolando Villazón nur wenige Tage zuvor gescheitert war.
Klangmixtur aus italienischem und französischem Idiom
Der 1992 geborene russische Sänger war Wunderkind und ist heute Universalmusiker als Dirigent, Pianist, Komponist. Seinen letzten Stimm-Schliff holte er sich bei Renata Scotto und Giuseppe Sabatini in Rom. Auch äußerlich ginge Agadzhanyan als Italiener durch. Seine souverän geführte, höhensichere und ungemein präsente Stimme mit hohem Steigerungspotential und Reserven bis zum Schluss aber prädestiniert ihn für die großen italienischen und französischen Tenorpartien des neunzehnten Jahrhunderts.
So auch für die Rolle des Grafen von Sachsen in Cileas Oper „Adriana Lecouvreur“ von 1902, eine berückende Klangmixtur aus italienischem und französischem Idiom, impressionistisch und veristisch zugleich, erotisch, anschmiegsam, auch dämonisch, wenn sich Liebe in Hass, Sanftheit in Zorn, Leben in Tod verkehren. Gergiev macht daraus mit feinstem Sensorium für Flair, Farben und Bewegungsabläufe ein orchestrales Fest. Die Streicher schmeicheln, Harfe, Oboe, Glockenspiel und Solo-Violine strahlen südliche Helligkeit aus. Die Melodien lächeln Puccini entgegen, die plötzlich dreinfahrende Pauke lässt Böses erwarten.
Ziemlich konventionell
Mit leichter Hand wechselt Gergiev aus Cileas kurzen ironischen Buffo-Szenen in hemmungslose Gefühlsseligkeit. Nicht nur die Liebe wird in den Duetten zwischen Adriana und dem Grafen von Sachsen ekstatisch gefeiert, der vierte Akt böte sich als Pendant zur Hochglanzbroschüre „Schöner sterben“ an. Wenn Adriana aber endlich von uns gegangen ist, lässt sie Regisseurin Isabelle Partiot-Pieri in einem Akt der Verklärung gleich wieder auferstehen.
Für hiesige Vorstellungen ist die Inszenierung aus St. Petersburg bis auf die filmischen Vor- und Zwischenspiele ziemlich konventionell, ohne „Lesarten“, frei erfundene Nebenhandlungen, Aktualisierungen. Alles konzentriert sich auf den Plot: Zwei Frauen im Ancien Régime lieben denselben Mann, den Grafen von Sachsen, und wollen einander aus dem Weg räumen. Die eine ist die gefeierte Schauspielerin Adriana, die andere eine alternde, rasend eifersüchtige Matrone (auch stimmlich voluminös: die Mezzosopranistin Ekaterina Semenchuk).
Optisch gewinnt die Inszenierung durch die historischen Kostüme in sattem Rot (Christian Gasc) und die Drehbühne, die das Doppelspiel von Theater auf dem Theater in Gang setzt. Alle Protagonisten werden auch zu Zuschauern, alle geraten in einen Strudel, in dem sich Kunst und Leben unheilvoll überschneiden. Tatiana Serjan aber lässt keinen Zweifel daran, welche Rolle sie gerade spielt: sich selbst oder die Phèdre von Racine.
Ein weiterer Sympathieträger ist der Bariton Alexei Markov in der Rolle des schüchternen, chancenlosen Liebhabers Michonnet, der Adriana bis in den Tod begleitet. Als Spielleiter des Theaters auf dem Theater ist er einer der anrührendsten männlichen Protagonisten der Operngeschichte: Nur er kennt sie wirklich – die Wahrheit.