Salzburger Festspiele: Sie sind das Liebespaar des Jahrhunderts

Das Musikfestival in der Mozartstadt eröffnet seinen Opernreigen mit gleich zwei mutigen Premieren: der «Zauberflöte» sowie der «Salome» von Richard Strauss. Doch nur eine kann überzeugen.

Eleonore Büning, Salzburg
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Schinkel stand ein bisschen Pate: Szene aus Lydia Steiers Neuinszenierung von Mozarts «Zauberflöte» bei den Salzburger Festspielen. (Bild: Leonhard Foeger / Reuters)

Schinkel stand ein bisschen Pate: Szene aus Lydia Steiers Neuinszenierung von Mozarts «Zauberflöte» bei den Salzburger Festspielen. (Bild: Leonhard Foeger / Reuters)

Pünktlich zur Premiere ging der Blutmond auf über Salzburg. Festspielgäste, die zur Pause hinaus auf die Hofstallgasse traten, wurden Zeugen, wie sich das Menetekel dramatisch formierte. Dabei wurde drinnen an diesem Abend nichts Blutiges, Biblisches gegeben, keine mondsüchtige «Salome»-Tragödie, vielmehr das gewiss beliebteste, leichtfüssigste Machwerk, welches Wolfgang Amadeus Mozart hinterlassen hat. «Die Zauberflöte» gehört zum kostbarsten salzburgischen Tafelsilber: Insgesamt 17 Mal wurde sie hier schon neu in Szene gesetzt, 220 Mal aufgeführt seit der Festspielgründung. Da ist es mutig und gut, dass der Intendant Markus Hinterhäuser die 221. Aufführung einer Debütantin anvertraut hat, von der man, nach den Arbeiten, die sie bisher vorlegte, in München, Weimar, Potsdam, Basel, weiss: Die traut sich was.

Lydia Steier ist eine Stückeaufklapperin. Sie möchte gern den doppelten Boden zeigen, das Fremde, das in vermutlich jeder bekannten Geschichte steckt, wenn man nur danach sucht. Aber kaum geht das los, im Allabreve, Es-Dur, mit den berühmten Orchesterschlägen, schon sind wir wieder gemütlich zu Hause. Die Familie hat sich im Esszimmer versammelt, die Suppe wird serviert, nur die drei Knaben kommen zu spät. Ein piekfeines Puppenhaus hat die Bühnenbildnerin Katharina Schlipf erbaut, einen Querschnitt gelegt durch eine Villa der späten Gründerzeit, mit zwei Etagen, Küchentrakt, Treppenhaus und Kinderzimmer. Da gibt es viel zu gucken, während unter der Stabführung von Constantinos Carydis das Fugato aus dem Orchestergraben tönt, ziemlich flott und erstaunlich unsortiert. Klingt wie erstmals probehalber improvisiert. Sind das wirklich die Wiener Philharmoniker, die da spielen?

Verdreifachter «Little Nemo»

Frau Mama (Albina Shagimuratova) bekommt jedenfalls einen Wutanfall, sie fegt den Teller vom Tisch. Man ahnt schon: Sie wird später wiederkommen, als Königin der Nacht. Ihre drei Dienstmädchen müssen wohl die drei Damen sein. Der stämmige Metzgerssohn (Adam Plachetka) liefert der Köchin frische Brathähnchen: Das ist Papageno, mit seinen Vögeln. Dann bringt der Grossvater (Klaus Maria Brandauer) die Knaben zu Bett und liest ihnen eine Gutenachtgeschichte vor. Und es passiert, sobald er es ausgesprochen hat: Zack, springt das Kinderzimmerfenster auf, und ein Zinnsoldat in rotem Rock stürzt herein, nein, nicht der Nussknacker des Paten Drosselmeier, vielmehr Prinz Tamino (Mauro Peter), unschwer zu erkennen an der Schlange, die ihm heftige Flammenwerfer-Schübe hinterherspuckt. Alsbald zerlegt sich das Puppenhaus in Stücke. Und die drei Wiener Sängerknaben in ihren langen Gründerzeit-Nachthemden schwärmen aus ins comicbunte «Zauberflöten»-Slumberland, als verdreifachter «Little Nemo».

Grossvati, was kennst du für tolle Geschichten! Klaus Maria Brandauer (als Erzähler) mit den drei Knaben in Salzburgs neuer «Zauberflöte». (Bild: Salzburger Festspiele)

Grossvati, was kennst du für tolle Geschichten! Klaus Maria Brandauer (als Erzähler) mit den drei Knaben in Salzburgs neuer «Zauberflöte». (Bild: Salzburger Festspiele)

Alle drei – Jeong-min Lee, Matthew Helms und Philipp Rumberg – singen charmant und lupenrein. Ebenfalls ideal besetzt: Brandauer, eingesprungen für Bruno Ganz. Seine Diktion ist so schlicht und klar wie die Funktion dieser Erzählerfigur, die all die holperig aufgesagten Dialoge überflüssig macht, die üblicherweise in der «Zauberflöte» den Fluss der Musik stören. Manchmal spricht Brandauer auch direkt mit Tamino oder Pamina, und sie antworten ihm. Einmal sagt er ein Shakespeare-Zitat auf, die Shylock-Worte aus dem «Kaufmann von Venedig». Sehr schön. Weniger schön, dass er zuweilen voice-over in die Musik hineinsprechen muss, so, als habe Mozart kein Singspiel, sondern ein Melodram komponiert.

Auch sind jede Menge geräuschvolle Umbauten auf offener Szene nötig, zur Präsentation der Steierschen doppelten Böden. Jede Menge Artisten, Clowns, Trapezkünstler, Bären, Zwerge, Muskel- und Stelzenmänner sind unterwegs, sie kommen aus dem Wiener Prater oder aus dem fernen Land Absurdistan, alles dreht sich, alles bewegt sich, ein Witz erschlägt den nächsten, und man wird der kunstvoll zusammengeleimten Übergänge zwischen den Erzählebenen und der angestrengten Pointenhascherei rasch überdrüssig. Bald ist die Musik vollkommen überformt vom Overkill der Bilder. Selbst gute Sänger gehen darin verloren. Schade.

Carydis wurstelt sich, mit ärgerlichen Überpointierungen und kantig-groben Tempowechseln, irgendwie durch. Mauro Peter: ein blasser, charisma- und schmelzfreier Tamino. Christiane Karg: eine allzu zarte und zickige Pamina. Adam Plachetka: ein körnig timbrierter, gedämpfter Papageno. Matthias Goerne: eine Sarastro-Karikatur, farblos, ohne Tiefe. Die drei Damen singen selten zusammen, und sie intonieren oft zu tief. Nur die brillant sternflammende Koloraturenschleuder Shagimuratova erntete – neben den drei Knaben – mehr als höflichen, nämlich dankbar anhaltenden Applaus.

Menetekel

Auf diesen unvorhersehbaren Reinfall, den man so schnell wie möglich vergessen sollte, folgte am zweiten Festspielabend ein kleiner Regen aus fast heiterem Himmel – und eine atemberaubend dicht gefügte, epochemachend musizierte, nahezu perfekt besetzte und vom Publikum stürmisch gefeierte «Salome». Obgleich ein viel gespieltes Schlüsselwerk der Moderne, aus der Feder des ehemaligen Festspiel-Präsidenten Richard Strauss, erfährt das einstige Fin-de-Siècle-Skandalstück damit erst die dritte Salzburger Neuinszenierung. Die letzte kam vor 25 Jahren heraus, inszeniert von Luc Bondy. Warum so selten? Ist «Salome» eventuell zu kurz für das Festspiel-Portfolio? Oder immer noch zu pervers? Zu viel Tritonus-Zumutung?

Die schwarze Sonne und das Unschuldslamm: Gábor Bretz (Jochanaan) und Asmik Grigorian (Salome) in Romeo Castelluccis Salzburger Neuinszenierung. (Bild: Ernst Wukits / Imago)

Die schwarze Sonne und das Unschuldslamm: Gábor Bretz (Jochanaan) und Asmik Grigorian (Salome) in Romeo Castelluccis Salzburger Neuinszenierung. (Bild: Ernst Wukits / Imago)

Ahnungsvoll leuchtet von Anfang an ein kleiner, rabenschwarzer Mond hoch im Himmel der Felsenreitschule. Den hat (als sein eigener Ausstatter) Romeo Castellucci dort aufgehängt. Der Mond vervielfältigt sich, er zeugt sich fort als goldener Ring oder als bleicher Milchsee oder als kleine schwarze Wolke, die Castellucci (als Regisseur) alsbald hervorkriechen lässt aus dem tiefen Brunnenschacht, darin der Prophet (Gábor Bretz) gefangen sitzt. Langsam wächst diese Wolke, horrorfilmartig, wie das Grauen in «The Ring».

Wächst weiter, während Salome (Asmik Grigorian), unschuldsweiss gekleidet, obwohl schon mehrfach missbraucht, wie der Blutfleck an ihrer Kehrseite anzeigt, sich gurrend und lockend verströmt; während die menetekelnde Donnerstimme des Jochanaan herauftönt, in die sie sich verliebt hat, weil sie «wie Musik» ist in ihren Ohren; während die Solovioline sich ihrerseits unwiderstehlich wienerisch süss in unsere Ohren kringelt und der Prophet endlich befehlsgemäss aufsteigt aus dem Brunnen, in seinem abscheulichen rabenschwarzen Flokatimantel, mit Indianerfedern im Haar, und warnt und dröhnt und griechische Buchstaben an den Wänden erscheinen lässt, die wieder verschwinden. Und weiter wächst die schwarze Wolke, unaufhaltsam, während die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Franz Welser-Möst ein alles überwölbendes Crescendo aufblühen, sich ausschreien lassen, dergestalt, dass die Schwärze alles verschlingt und sich Nacht ausbreitet in der Felsenreitschule. Die geht vorbei. Das Grauen, die Erschütterung, sie bleiben.

Auf Salomes Seite

Ein herrliches schwarzes Pferd taucht auf im Brunnen, wirft die Mähne und donnert mit den Hufen: Jochanaan – eine Kleinmädchenphantasie. Entzückt wirft sich Salome auf den Rücken, ihre nackten Beine tanzen Lufttango. Später verteilt sie unfassbar sinnliche, unglaublich obszöne Luftküsse an einen imaginären Propheten-Kopf. Denn nur der Rumpf des Geköpften sitzt auf dem Stuhl – ein Pferdekopf daneben. Die Intensität, mit der Grigorian die Süssigkeit und Verzweiflung dieser zerstörten Seeleneinsamkeit singt und gestaltet, nimmt der Szene jeden Schatten von Widerwärtigkeit. Strauss und die Musik, die Philharmoniker und Welser-Möst sind ohnehin allezeit auf Salomes Seite.

Kopflos: Asmik Grigorian (Salome) mit dem Rumpf des Jochanaan. (Bild: Leonhard Foeger / Reuters)

Kopflos: Asmik Grigorian (Salome) mit dem Rumpf des Jochanaan. (Bild: Leonhard Foeger / Reuters)

Ja, gewiss, man muss zwar erst das Programmbuch lesen, will man wenigstens einige der bei Castellucci üblichen Rätselbilder verstehen, die auch in dieser Inszenierung herumspuken: eine stumme Jazzband, posierende Boxer, blutrot aufgeschminkte Halbmasken, ein schwarzer Ballon und so fort. Nicht alle Allusionen und Zitate werden, wie in diesem Glücksfall, von der Musik beglaubigt. Aber die Bilder beflügeln alle Sänger, bis in die Fussspitzen reicht die Spannung. John Daszak ist ein schneidend scharfer Herodes. Julian Prégardien singt die Partie des Hauptmanns Narraboth mit innigem Schmelz, wie ein Taminoprinz. Das bitterspitze Ensemble der fünf Juden sitzt pointengenau. Und Bretz als dunkle Sonne Jochanaan, die Grigorian als strahlendes Salomekind: Sie sind das Liebespaar des Jahrhunderts. Denn das Geheimnis der Liebe ist grösser als das Geheimnis des Todes.