Salzburger Festspiele: Wird mit dieser «Poppea» das Theater der Zukunft erprobt?

Der belgische Theatermacher Jan Lauwers versucht einen dezentralen, wie improvisiert wirkenden Zugriff auf Claudio Monteverdis letzte Oper «L’incoronazione di Poppea». Ein Ganzes ergibt das nicht – doch vielleicht ist das beabsichtigt?

Michael Stallknecht, Salzburg
Drucken
Singen über verkeilten nackten Leibern: Szene aus «L'incoronazione di Poppea» bei den Salzburger Festspielen. (Bild: Andreas Schaad / epa)

Singen über verkeilten nackten Leibern: Szene aus «L'incoronazione di Poppea» bei den Salzburger Festspielen. (Bild: Andreas Schaad / epa)

Markus Hinterhäuser sei, so geht die Legende, in einem etwas ratlosen Moment durch die Salzburger Hofstallgasse entlang der Festspielhäuser gelaufen, als ihm seine Intuition eingegeben habe, Jan Lauwers anzurufen. Der belgische Künstler, ziemlich überrascht, habe auf die Frage des Intendanten der bedeutendsten Musikfestspiele der Welt, ob er sich vorstellen könne, jemals eine Oper zu inszenieren, knapp geantwortet, es gebe da nur eine einzige. «Und ich sage dir genau, welche das ist», entgegnete der abermals von Intuition gesegnete Intendant: «Monteverdis ‹Poppea›!»

Folglich hält diesen Sommer nun der Geist der freien Theaterszene aus den Benelux-Ländern Einzug ins Salzburger Haus für Mozart – und tatsächlich bei Claudio Monteverdis «L’incoronazione di Poppea», seiner letzten Oper aus dem Jahr 1642/43. Der durch seine Schauspielarbeiten in Salzburg und am Wiener Burgtheater in Österreich bestens etablierte Jan Lauwers versteht sich indes nicht als Regisseur, sondern entwickelt mit seiner «Needcompany» seit dreissig Jahren freie Projekte im Rahmen einer sogenannten dezentralen Strategie. Schauspieler, Tänzer und Musiker kommen dabei ohne feste Rollenzuschreibung zueinander, um verschiedene Kunstformen für die Aufführung bereitzustellen. Das zielt nicht auf ein geschlossenes Werk, die Aufführung soll vielmehr jeweils spontan aus dem möglichst authentischen Agieren der Beteiligten entstehen. «Vorstellung statt Darstellung» lautet das Motto, weshalb Figuren – auch im Kostüm – nicht verkörpert, sondern nur performativ skizziert werden.

Puristische Variante

Dass Hinterhäuser da eine mögliche Verbindung zur Frühform der Oper sah, ist nachvollziehbar. Monteverdis «Poppea» ist nicht in einer endgültigen Fassung überliefert, entstand zudem nach jüngeren Annahmen der Forschung im Teamwork mit anderen Komponisten. Die Dramaturgie ist noch nicht als Schema verfestigt, auch die instrumentale Ausgestaltung bleibt dem Dirigenten überlassen. In Salzburg entscheidet sich William Christie mit seinem Ensemble Les Arts Florissants für eine puristische Variante.

Melodieinstrumente wie Violine, Flöte und Kornett kommen nur selten zum Einsatz, die für den Generalbass verantwortliche Continuo-Gruppe dagegen ist relativ gross, agiert aber ebenfalls fast nie als geschlossene Gruppe. Mehr oder minder spontan steuert auch der einzelne Musiker seine instrumentale Farbe bei, schon optisch im hochgefahrenen Orchestergraben als Teil des Kollektivs in die Aufführung integriert. «Dezentralität» ist also auch hier das Stichwort, zumal sich der an einem der beiden Cembali sitzende Christie so wenig als «Dirigent» verstehen will wie Lauwers als «Regisseur».

Die Sänger sind mithin auf sich gestellt, wobei jeder tut, was er halt kann. Möglich macht das Monteverdis Gesangsstil, der der gesprochenen Sprache tatsächlich noch näher ist als dem späteren Kunst- und Schöngesang. Dominique Visse zum Beispiel schlägt damit aus der Travestie-Rolle der Arnalta die von ihm gewohnten komischen Funken, wofür er sich inzwischen ein ganz eigenes Stimmfach zwischen hohem Tenor und Falsett erarbeitet hat. Stéphanie d’Oustrac wechselt als Ottavia wuchtig zwischen Heroine und Megäre. Renato Dolcini dagegen ist in der Rolle des Seneca eine glatte Fehlbesetzung, schon weil ihm die nötige Tiefe fehlt. Der Countertenor Carlo Vistoli gestaltet Ottone intensiv von der Sprache her, bleibt stimmlich freilich trotzdem blass. Wo kein Regisseur die Sänger fordert, wächst niemand wirklich über sich hinaus.

Hüpfen, zucken, raufen

Die Folgen spürt man besonders beim zentralen Paar: Die Starsopranistin Sonya Yoncheva gibt Poppea als Sexbombe, wie man sie keiner Darstellerin der Carmen in Georges Bizets gleichnamiger Oper mehr durchgehen lassen würde. Da wird viel Décolleté und Bein gezeigt, wird gegurrt, bezirzt, geschmollt und gezickt, was die tatsächlich enorm farbenreiche, im Leisen wie im Lauten gleichermassen flexible Stimme der Yoncheva hergibt. Nero dagegen, in der Gegenwart meistens mit einem Countertenor besetzt, bleibt bei Kate Lindsey darstellerisch auf das Klischee des kindisch kreischenden Tyrannen beschränkt. Dabei wäre Lindsey mit ihrem herben, in den kräftigeren Farben stark nasal gefärbten Mezzosopran prädestiniert für eine Hosenrolle, wenn dem Team das operntypische Spiel mit Geschlechterrollen nicht genauso suspekt wäre wie Rollen im Allgemeinen. Die vielen Travestiemomente funktionieren deshalb allesamt nicht, weder in ihrer Komik noch in den aus den Verkleidungen entstehenden tragischen Verwicklungen.

Wie überhaupt die Aufführung eigentümlich flach bleibt, da ihr Gegenwartsbezüge ebenso fehlen wie eine geschichtliche Dimension, ein geistiger Raum ebenso wie der reale. Bezeichnenderweise behandelt Jan Lauwers die Guckkastenbühne im Haus für Mozart, als existiere sie nicht. Im Bühnenraum, dessen Boden ineinander verkeilte nackte Leiber zeigt, toben sich fast nur die Tänzer vom Salzburger Bodhi Project & Sead aus, sie hüpfen, zucken, raufen ununterbrochen. Die Sänger dagegen stehen meistens über dem teilweise überbauten Orchestergraben, kleben wie im ältesten Operntheater vorn «an der Rampe», wobei Beziehungen zwischen beiden Ebenen in der besagten «dezentralen» Strategie nur zufällig entstehen.

Dafür dreht sich auf einem Podest in der Bühnenmitte ununterbrochen ein Tänzer um die eigene Achse, worin die Tänzer sich im Fünf-Minuten-Rhythmus abwechseln. Wo sonst jedes Symbol verpönt ist, jede deutende Perspektive auf das Stück entfällt, wird dieses Drehen selbst zum Symbol: Es wirkt im ersten Moment so frei wie der ganze Zugang, um während der Aufführung von dreieinhalb Stunden Dauer zu aussichtsloser Langeweile zu erstarren. Diese Aufführung von Monteverdis «Poppea» kennt keine Höhen und Tiefen, erst recht keine menschlichen Abgründe, weil sie dem Paradox der Authentizität verfällt: Wo Menschen ganz spontan sie selbst sein wollen, kreisen sie am Ende bloss sinnlos um sich selbst.