Salzburger Festspiele: Wir sind gemeint mit dieser Oper

Vor 52 Jahren wurden bei den Salzburger Festspielen «Die Bassariden» von Hans Werner Henze auf ein Libretto von W. H. Auden uraufgeführt. Jetzt kehrt die Oper an den Ort ihres Ursprungs zurück – in denkwürdiger Deutung.

Marco Frei, Salzburg
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Sündige Spiele: Rosalba Torres Guerrero (Solotänzerin), Tanja Ariane Baumgartner (Agave / Venus) und Vera-Lotte Böcker (Autonoe / Proserpine) in Hans Werner Henzes Oper «Die Bassariden» in Salzburg. (Bild: Imago / Ernst Wukits)

Sündige Spiele: Rosalba Torres Guerrero (Solotänzerin), Tanja Ariane Baumgartner (Agave / Venus) und Vera-Lotte Böcker (Autonoe / Proserpine) in Hans Werner Henzes Oper «Die Bassariden» in Salzburg. (Bild: Imago / Ernst Wukits)

Sie werden an der Leine gehalten, mit nacktem Oberkörper und ledernem Halsband, und hecheln wie die Hunde. Und wie sie da artig Männchen machen und das Beinchen heben, gehätschelt oder gemassregelt werden, erinnern sie an die Erniedrigten und Gequälten aus dem Skandal-Kultfilm «Die 120 Tage von Sodom» von Pier Paolo Pasolini. Vor dem Hintergrund der Republik von Salo, dem letzten Zufluchtsort der italienischen Faschisten im Zweiten Weltkrieg, wird eine Gruppe Jugendlicher von sadistischen Grossbürgern entführt, misshandelt und zu Tode gefoltert.

Mit den drastischen Mitteln einer wüsten Sex- und Gewaltorgie zeichnete Pasolini 1975 das abgründige Porträt einer Gesellschaft, in der Macht totalitär wird. Der Mensch ist in einem solchen Umfeld gar nichts wert. In seiner Neuinszenierung der «Bassariden» von Hans Werner Henze bei den Salzburger Festspielen setzt Krzystof Warlikowski genau hier an, und es ist ein schlauer Schachzug, dass der polnische Regisseur auf Pasolinis Horror-Gesellschaft anspielt: Fängt er damit doch die Intention von Henzes «Opera seria mit Intermezzo in einem Akt» ebenso zielgenau wie umfassend ein.

Familiärer Abgrund

Bei den Salzburger Festspielen 1966 uraufgeführt, ging es Hans Werner Henze in den «Bassariden» nicht zuletzt um eine Aufarbeitung der NS-Zeit. «Ich hatte gesehen, was ein totalitärer Staat in der Lage ist zu tun, um die Menschen zu erniedrigen und zu Sklaven zu machen», betonte Henze 2008, vier Jahre vor seinem Tod, auf Nachfrage anlässlich einer «Bassariden»-Neuproduktion an der Bayerischen Staatsoper in München. In der Lesart von Warlikowski machen sich nun alle schuldig: eben nicht nur der Verführer und Volksverblender Dionysos, teuflisch attraktiv dargestellt von Sean Panikkar, sondern auch sein Gegenpart, der rationale Pentheus.

Der junge König von Theben regiert mit harter Hand, geht faktisch mit Terror und Willkür gegen das eigene Volk vor, lässt foltern und morden, um seine schwindende Macht zu erhalten. Diese zwiespältige Persönlichkeit fängt Russell Braun perfekt ein: Sein Salzburger Pentheus ist ein Gebrochener und ganz und gar nicht positiv besetzt. Am Ende schafft es Dionysos, dass Pentheus in einem wilden Blutrausch buchstäblich abgeschlachtet wird. Seine Mutter Agaue und ihre Schwester Autonoe sind die treibenden Kräfte dieses Gemetzels.

Wie in Salzburg diese beiden Frauen von Tanja Ariane Baumgartner und Vera-Lotte Böcker ausgestaltet werden, ist allergrösste Sanges- und Spielkunst. In siegreicher Pose steht Böckers Autonoe auf der Bühne, breitbeinig und blutüberströmt, eine Axt über ihren Kopf schwingend. Wie im Wahn hält Baumgartners Agaue den Kopf ihres enthaupteten Sohnes in die Höhe, um ihn sodann unter ihrem Rock verschwinden zu lassen. Das Erbe ihres Vaters – Williard White als Theben-Gründer Kadmos – liegt jäh in Trümmern.

Das Volk, die Masse

Nach seinem Rachefeldzug hat indessen auch Dionysos nichts gewonnen: weil er ebenfalls Opfer seiner Herkunft ist. Warlikowski lässt ihn schliesslich Brennstoff in die Szene schütten. Er kauert am Boden, und bevor die Scheinwerfer ausgehen, zündet Dionysos ein Feuerzeug an. Den Rest kann man sich denken. Mit solchen Bildern bringt Warlikowski schockierend auf den Punkt, wie sehr hier eine ganze Gesellschaft in Trümmern liegt: Aus der privaten Familientragödie wird ein öffentlicher Weltuntergang – genau wie in Pasolinis «Salo»-Film von 1975. Das faschistoide Foltern und Morden vollzieht sich bei Pasolini auf einem bürgerlichen, abgeschiedenen Landsitz, gewissermassen in den «eigenen vier Wänden». Wir sind gemeint, das Volk, die Masse, und das ist genauso die Kernaussage der Oper. Die eigentlichen Hauptverantwortlichen sind die Bassariden, das Volk von Theben also, die sich blind beherrschen lassen. Selbst offenkundige Lügen ändern nichts daran.

In seiner Regie macht Warlikowski unmissverständlich deutlich, wie viel erschreckend aktuelle Zeitkritik in Henzes Opernstoff schlummert – an die populistischen Blender unserer Tage, die allenthalben Hochkonjunktur haben, denkt wohl jeder bei dieser Aufführung, und die sehr heutig anmutende Ausstattung und Bühne von Małgorzata Szczęśniak wirken zusätzlich wie ein Spiegelbild. Bei Henze weist das Volk am Ende jede Verantwortung weit von sich. «Wir hatten nicht Teil an ihrem gesetzlosen Rasen, uns trifft keine Schuld», singen die Bassariden. Für Henze war dieser Chorsatz ein Sinnbild für die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. «Nahezu alle haben hinterher gesagt: Wir waren ja immer dagegen», erklärte Henze in dem Gespräch 2008 in München.

Im Doppelpack

Bei der damaligen Neuproduktion an der Bayerischen Staatsoper stand zwar nicht Kent Nagano am Pult, damals Generalmusikdirektor des Münchner Hauses; er hatte er jedoch die Entstehung und Einstudierung intensiv begleitet. In Salzburg wird jetzt hörbar, wie umsichtig und kenntnisreich sich Nagano in die Partitur Henzes vertieft hat. Statt die teils harten Kontraste und wilden Effekte noch zu schärfen, ergründet Nagano mit den Wiener Philharmonikern und dem Wiener Staatsopernchor eher einen hellhörigen Mischklang. Aus den spätromantisch-expressionistischen und neoklassizistischen Gesten in Henzes Musik filtert er eine in sich geschlossene, stimmige Klanglichkeit heraus.

Unter der Leitung Naganos prallen folglich nicht, wie sonst oft, die musikalischen Sphären von Pentheus- und Dionysos-Welt konfliktreich aufeinander; hier in Salzburg stehen sie sich auch nicht unversöhnlich gegenüber, sie sind vielmehr subtil ineinander verwoben. Damit setzt sich in der Musik sinnstiftend fort, was die Regie von Warlikowski klar herausarbeitet: Pentheus und Dionysus gehören zusammen, bedingen sich gegenseitig; ein pauschales Gut oder Böse gibt es in diesem Doppelporträt nicht mehr. Das ist eine profilierte, wegweisende Deutung. Auch deswegen ist in Salzburg ein Gesamtkunstwerk geglückt – musikalisch wie szenisch. Und ein eindringlicher Abschluss der durchweg mutig und mit hohem geistigen Anspruch konzipierten Opernneuproduktionen dieses Sommers.