Das Staatstheater Darmstadt wagt Messiaens „Saint François...

Der Engel (Katharina Persicke) treibt Schabernack mit den franziskanischen Brüdern: Szene aus Olivier Messiaens Oper „Saint Francois d’Assise“ im Staatstheater Darmstadt. Foto: Stephan Ernst
© Stephan Ernst

Die Aufführung von Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“ in Darmstadt dauert fünfeinviertel Stunden, und weder Kleider noch Klara spielen eine Rolle.

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DARMSTADT. Man ertappt sich beim Gedanken, was Verdi aus diesem Stoff gemacht hätte. Im Finale des ersten Aktes hätte Franziskus seinem Vater die kostbaren Kleider hingeworfen, im zweiten wäre das leidenschaftliche Duett mit der Heiligen Klara an der Reihe gewesen. Zwei Stunden, und die Heiligenlegende wäre erledigt.

Die Aufführung von Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“ in Darmstadt dauert fünfeinviertel Stunden, und weder Kleider noch Klara spielen eine Rolle. Es geht ja auch um den inneren Weg, an dessen Ende Franziskus von Assisi noch fremder geworden sein wird in der Radikalität, mit der er Schmerz und Liebe in ihren äußersten Dimensionen suchte. Deshalb ist an Messiaens Oper alles groß, vor allem die Besetzung. Seit der Uraufführung vor 35 Jahren haben nur sehr wenige Opernhäuser gewagt, die Faszinationskraft dieser Komposition zu entdecken. Darmstadt hat mit vereinten Kräften des Hauses diesen Kraftakt gestemmt: Mit großem Jubel feierte das Publikum am Sonntagabend eine Aufführung von großer musikalischer Dichte, die sich nahtlos mit dem szenischen Einfallsreichtum verbindet.

Denn die Inszenierung von Karsten Wiegand (unterstützt von Co-Regisseurin Luise Kautz) denkt die musikalische Raumwirkung gleich mit, wenn sie die Mitwirkenden auch in Parkett und Rang verteilt; am eindrucksvollsten im letzten Bild, wenn die Chöre (neben dem des Staatstheaters, Sänger der Darmstädter Kantorei und des Rhein-Main-Kammerchores) die göttliche Stimme wuchtig erklingen lassen und dabei in Kreuzform mitten im Publikum sitzen.

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Das Orchester in Hochform mit grandiosen Mischungen

Die erhöhte Positionierung des Orchesters hinter der Spielfläche gefährdet hin und wieder die klangliche Plastizität. Dabei leuchtet der Dirigent Johannes Harneit feinsinnig und umsichtig die subtilen Reize dieser Partitur aus. Dem Orchester in Hochform gelingen kammermusikalisch zarte Wirkungen, es gibt grandiose Klangmischungen, überhaupt überrascht dieser Abend ein ums andere Mal durch die sinnliche Nähe, die er zu den Hörern ganz umstandsfrei herstellt.

Jedes der acht Bilder erhält seine eigene musikalische Farbe, und Wiegands Regie entdeckt die Musik als den Motor der Bilderzählung. Sie braucht keine übertriebenen Aktionen, um den inneren Weg anschaulich zu machen; Bühnenbildnerin Bärbl Hohmann gliedert den Raum dafür geschickt mit Rahmen für wechselnde Projektionen. Im fünften Bild, wenn der suchende Franziskus in wachsender Erschöpfung im Kreis wandert, bis er zusammenbricht, erschüttert von der himmlischen Musik, führt die Regie an Grenzen zwischen religiöser Verzückung und Wahn. Wenn Franziskus dem Leiden des Aussätzigen, dem Mickael Spadaccini mit kraftvollem Tenor Ausdruck verleiht, erst mit guten Ratschlägen begegnet, bevor er sich zum heilenden Kuss durchringt, hat das szenische Spannung. Später steht Katharina Persicke, ein Engel mit himmlisch schöner Stimme, vor der Klosterpforte wie ein Lausbub, der die Brüder neckt und in lustigen Videoprojektionen Giottos Franziskus-Fresken tanzen lässt, eine Szene von heiterer Leichtigkeit, in der Michael Pegher als Bruder Élie die Karikatur des klösterlichen Wichtigtuers zeichnet. Überhaupt ist die Besetzung der franziskanischen Ur-Bruderschaft mit Julian Orlishausen (Léon), David Lee (Massée), Johannes Seokhoon Moon (Bernard), Werner Volker Meyer (Sylvestre) und Tom Schmidt (Rufin) tadellos gelungen.

Und Georg Festl meistert die Riesenpartie des Franziskus glänzend, als präsenter Darsteller und mit den beredten Schattierungen seines Baritons bis hin zum gelassenen Abschied, den Wiegand mit dem Video eines schlüpfenden Vogelküken illustriert. Das knüpft ein wenig schlicht an die Naturmystik des Heiligen an, der in der berühmten Vogelpredigt ja jeden Piepmatz einzeln begrüßt: Da strapaziert die klangverliebte Ausführlichkeit des Komponisten die Geduld über Gebühr.

Das größte Rätsel bleibt ungelöst

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Der zweite Teil wird eröffnet von einem Auftritt des Schauspielers Erwin Aljukic, der den geschlossenen Eisernen Vorhang betastet, als wolle er das Wunder dahinter ergründen. Dann spricht er eines der größten Rätsel aus, das Messiaen in seiner Franziskus-Oper formuliert hat. Gott blende uns durch die Überfülle an Wahrheit, die Musik aber trage uns zu Gott durch einen Mangel an Wahrheit. Über diesen Mangel hätte man sich nach der Darmstädter Aufführung gar nicht beklagt.

Von Von Johannes Breckner