Schon zu Beginn lässt Goethe in seinem Faust Mephistopheles so zu Wort kommen: „[...] Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben, der ungebändigt immer vorwärts dringt, und dessen übereiltes Streben der Erde Freuden überspringt.“ Während Faust in seiner Unzufriedenheit also einen schicksalshaften Pakt mit dem Teufel schließt, in dessen Verlauf er Gretchen liebend verfällt, die am Ende auf sich und der gnädigen Hand Gottes gestellt ist, schmiedeten Les Siècles und François-Xavier Roth einen mit der Musik. Der von Hector Berlioz und seiner von der Vorlage in künstlerischer Freiheit abweichende La damnation de Faust, die somit nicht nur perfekt zum Orchesterschwerpunkt und dem Motto des Bonner Beethovenfests, „Schicksal”, passte, sondern zudem eine Umsetzung erfuhr, die die Gretchenfrage „Wie hast du's mit Les Siècles und Berlioz?“ klar beantwortete: Ich halte viel davon!

Denn Roth und sein Orchester erwiesen sich einmal mehr als talentierteste Zeichner Berlioz' Farben und Stimmungen dieser romantischen, dramatischen Legende, die der Komponist auf der weiten Flur in Ungarn beginnen lässt, um zum Ende des ersten der vier Teile seinen Marche hongroise einzupflegen. Und bei diesem ritt eine durch Les Siècles' appellierte Streicher, Bläser und Perkussionisten ertüchtigte Husarentruppe mit akkurat blitzenden Schildern und Säbeln vorbei, deren Klackern und Klimpern schon bei der anmutig schönen Sonnenaufgangsschilderung der ländlichen Idylle – alles vibratolos und damit noch schöner! – fern zu vernehmen war. Dort schlich Faust melancholisch und nachdenklich entlang, den die unverschämt sorglos beglückten Bauern und Dörfler auch nicht mit ihrem pfiffigen Tralala anstecken konnten, das der Tschechische Philharmonische Chor Brno leichtgängig, betont, aber nicht überspitzt aufführte. Faust, danach so plötzlich einsam in Norddeutschland zurück wie ihm da in seinem Büro Mephisto erschien, gab Tenor Bryan Register tatsächlich quälend angestrengt in lauteren Schüben; zweifelnd, weich und niedergeschlagen im suizidsinnierenden Monolog, der im getragenen, warmen und abkehrnährenden Kirchengesang des Chores unterging.

Erst weitere „Hosanna!“ der Frauenstimmen holten Faust aus dem Dunkel seiner leidenden Stimme, bis sich ihm Kyle Ketelsen in Gestalt des Méphistophélès vorstellte, mächtig, voll geschmeidiger List strotzend, theatralisch und in verständlicherem Französisch. Er lotste Faust, schnurstracks wie mit einem Fingerschnippen, in Leipzigs Auerbachs Keller, in die irdischen Katakomben der berühmten Goethe'schen Schenke, in der Les Siècles die Schwingtür zu klirrenden Bechern, Gläsern und Flaschen sowie derberem Stammtischpalawer öffnete. Und zu selbigem Geleier der Quarzer und Säufer, das der Männerchor leider viel zu brav intonierte. Das änderte auch der Brander in persona des bass-baritonal vollends überzeugenden Thibault de Damas nichts, der die launig-ordinär nach Anekdote und noch mehr Wein dürstende Tischgesellschaft vergebens anheizte. Der flott genommenen Amen-Fuge der Betrunkenen fehlte die textlich fundierte „Improvisation“ und „Bestialität“ – ein markantes Stück von Berlioz' Skurilität verschenkt. Sehr schade! Wie konnte es Faust angewidert zu viel werden? Besser machte es Ketelsen, an dessen spritzigem Lied mit Paukenstampf und -hieb er etwas mehr Gefallen hatte.

Dennoch nicht Fausts Sache, sodass ihn der Teufel zu seinem Gemüte schmeichelnden Elbauen bat, die das Orchester zauberhaft, luftig und grazil von Streichern und Holz bebilderte. Mephisto verstellte sich lyrisch gekonnt, um unter religiöser Führung von Fagott und Posaunen Faust ob der Naturwucht in Trance zu versetzen. Sie vernebelte ihm die gerissene egomanische Absicht seines Paktierers, die noch leicht in Ketelsens Timbre schlummerte, sodass Faust – zusätzlich hypnotisiert vom feinen Nymphenchor – einschlief. Chor und Orchester crescendierten, bis Marguerite im Traum erschien und sie sich unter Flüstern zurückzogen. Ehe er erwachte, tanzten Les Siècles und Roth tief versunken mit den Geistern, die sich und den Verstand in zärtlichste, von durchsichtiger Ahnung erkenntliche weiße Laken hüllten. Im Ausdruck ein wenig verschlafen und harmlos wechselte schließlich der Chor seine Rolle zu einer eingängig unter bündigem Marsch und Klarinettensprudel-Lied stolzierenden Studenten-, Burschen- und Soldatenschaft, die in der Stadt vor Marguerites Haus herumzog.

Dort versagte – ungewollt – Fausts Stimme, deren Süßlichkeit nicht den Kopfsprung zur „reinen Luft“ des Hautcontre vollzog, welch Tragik! Zwar sollte Register in seiner Leidenschaft zu Marguerite teils seine Stimmkraft wiederfinden, zu dessen Höhepunkt „je t'aime“ er – scheinbar am Limit angekommen – gar plötzlich zur vorhandenen Höhe fand, doch wollte die Textverständlichkeit zunehmends leiden. Anna Caterina Antonaccis Mezzo dagegen beteiligte sich routiniert in artikulatorischen und dynamischen Reizen an der Projektion einer passionierten, innigen Gretchenfigur, die mit der Soloviola genauso ein eindringliches „König von Thule“ anstimmte, wie sie sich mit dem wunderbaren Englischhorn ihrem flehenden Herzen aufwühlend hingab, mit einigem Vibrato, jedoch rund, elegant und klar phrasiert. Dazwischen flackerte der düstere Trug des starken Mephistos und das surreale, bereits halbmorbide anziehende, komische bunte Treiben der Irrlichter.

Das Drama gipfelte – wie es bei Berlioz eben kommen musste – mit Fausts wörtlich mitreißendem Ritt in die Hölle, die sich unter Roth mit ungeheuer schlotenden Trommeln, Pauken, Gong, Becken, den Posaunen und Ophikleiden, scheußlichen Fagotten und Klarinetten, darin ebenfalls niedergehendem Verdammtengeheul, so gewaltig, lautmalerisch erschreckend auftat, als käme der Morgen des Anfangs nie wieder. Er tat es allerdings mit schmerzlich-delikaten Violinen und Hörnern zur „Rettung“ Marguerites und dem Chor in der geborgenen Aufnahme der zuvor erbeteten Engelsarme.

***11