Wem es nicht vergönnt war, sich den Sommer mit dem Besuch von Sommerbühnen und Galakonzerten zu verschönen, der ist im September schon recht hungrig nach Live-Oper. Und da schmecken auch durchschnittliche Repertoire-Abende gut und gern wie der erste große Eisbecher nach dem Winter. Dieses Effekts bedurfte es aber gar nicht, um sich an der Wiener Staatsoper von der aktuellen La traviata-Serie bezaubern zu lassen.

Dass Albina Shagimuratova eine interessante Violetta abgeben würde, konnte man sich nach ihrem aktuellen Erfolg als Königin der Nacht bei den Salzburger Festspielen ausrechnen; dass man mit Simon Keenlyside und Pavol Breslik ein kompetentes Duo für Vater und Sohn Germont hören würde, ebenfalls. Die letztendlich herausragende Qualität des Abends war dennoch überraschend – von einer Aufwärmrunde vor der ersten großen Premiere (Les Troyens) konnte nicht die Rede sein, eher schon von einer Verlängerung der Festspielsaison.

Das liegt in erster Linie an der bereits erwähnten Albina Shagimuratova, die für den glamourösen Mittelpunkt der Pariser demi-monde die ideale Stimme und die notwendige Technik mitbringt. Sie punktete mit großer Intonationssicherheit und Flexibilität, und anders als viele ihrer Kolleginnen hatte sie es nicht nötig, sich über die eine oder andere Note kokett hinweg zu schummeln. Abgesehen davon beherrschte sie vom gehauchten Pianissimo bis zum ansatzlosen Crescendo und Decrescendo alle Zaubertricks ihres Fachs. Sympathisch machte sie, dass sie trotz überragender Form auf Diva-Allüren verzichtet und ihren Bühnenpartnern Raum und Gelegenheit gab, zu glänzen. Darstellerisch hatte sie an diesem Abend ihre großen Momente bei „Addio del passato“ und in der Szene mit Giorgio Germont.

Simon Keenlyside war für diese Partie eine ideale Besetzung und verdient sich für seine psychologische Deutung ein Sonderlob. Wo andere lediglich bestimmend-autoritär auftreten, gab sich Keenlyside in seiner Aufforderung an Violetta, Alfredo zu verlassen, manipulativ und emotional erpresserisch. Sogar die hehren Motive, die Berufung auf Gott, kaufte man ihm ebenso ab wie den Meinungsumschwung zum Schluss. Auch gesanglich war Keenlyside tadellos unterwegs – nach überstandenen Stimmbandproblemen ist diese Partie wohl eine gute Wahl, um weiteren Kalamitäten vorzubeugen.

Pavol Breslik ging seine Partie jugendlich-unbekümmert an. Sein Alfredo war ein verwöhnter, aber ansonsten recht unbedarfter Sohn aus gutem Hause, in dem er außer Eigensinn nicht viel gelernt hat. Trotzdem wirkte dieser Alfredo in seiner Liebe zu Violetta authentisch und sympathisch. Stimmlich gab es nichts auszusetzen, nur die große Szene „Lunge da lei… dei miei bollenti spiriti“ geriet am besprochenen Abend etwas verhalten. Das dürfte aber auch ein wenig der Regie von Jean-François Sivadier geschuldet sein: Wenn Alfredo sein paradiesisches Leben mit Violetta besingt, sollte man ihn besser allein lassen, als ihm Violetta buchstäblich an den Hals zu hetzen. Allerdings ist einiges an Regie-Klamauk in den sieben Jahren seit der Premiere ohnehin erodiert, sodass man mit dieser Inszenierung mittlerweile recht gut lebt.

Sehen und hören lassen konnten sich an diesem Abend auch die Sängerinnen und Sänger in den kleineren Partien; insbesondere zeigte das neue Ensemblemitglied Szilvia Vörös als Flora eine starke Leistung – man freut sich darauf, ihren vollschlanken Mezzo öfter zu hören. Auch Bongiwe Nakani gefiel als Annina mit sattem Ton. Besonders angenehm fiel auf, dass das Verhältnis zwischen Annina und ihrer Herrin Violetta sehr vertraut schien, wie insgesamt die Interaktion zwischen den Sängerinnen und Sängern fein abgestimmt war. Leider färbte der große Einsatz der Solisten nicht auf den Chor ab; mehr als Routine wurde von diesem nicht geboten, aber auch nicht weniger.

Die musikalische Leitung oblag Evelino Pidò, der La traviata als das vorführte, was sie musikalisch ist: ein italienischer Todeswalzer mit französischer Eleganz. Bereitwillig folgte das Staatsopernorchester seinen Forderungen an differenzierter Dynamik und Tempo, das der Maestro auch durch Mitsingen vorgab. Wenn man etwas Kritik üben kann, dann lediglich an dem Umstand, dass auch er die Wiener Lesart des Vorspiels durchgehen ließ, welche sich über die Jahre etabliert hat: ein unmotiviert harter Akzent zu Beginn und ein paar Nachlässigkeiten in den Geigen, bevor mit dem Staccato doch Disziplin einkehrt und für den Rest des Abends bleibt. Für meinen Geschmack hätte Pidò seine Violetta auf den großen Wellen von „Amami Alfredo“ ruhig länger reiten lassen können – wenn man eine Sängerin wie Shagimuratova hat, sollte man speziell diesen Moment besonders nutzen.

Diese Kleinigkeiten ändern jedoch nichts daran, dass man eine Traviata erlebte, an die man sich noch lange gern erinnern wird. Für eine Weile tauchte man in eine andere Welt ein.

*****