An Mut hat es Jens-Daniel Herzog nicht gefehlt, als er Sergej Prokofjews Mammutoper Krieg und Frieden zu Anfang seiner Intendanz am Staatstheater Nürnberg auf den Spielplan setzte und zum Stoff seiner ersten Regie am Hause machte; Mut und Vertrauen in die Leistungsfähigkeit seines neu zusammengesetzten musikalischen Teams auf und hinter der Bühne. Und wenn man die uneingeschränkt begeisterte Aufnahme der Neuinszenierung durch ein eher konservativ geprägtes Premierenpublikum in Nürnberg betrachtet, kann das Ergebnis dieses entschlossen umgesetzten Abenteuers nur heißen, dass die Betroffenheit über das Schicksal der Romanfiguren das Publikum erfasst hat!

Dabei hatte es dieses Familiendrama nicht leicht. Prokofjew und seine spätere Frau Mira hatten die 1500 Seiten von Tolstois historischem Nationalepos gekürzt, wesentliche Handlungsstränge in dreizehn Bildern konzentriert, in denen die kurze Liebe zwischen Fürst Andrej Bolkonski und Natascha Rostowa mit Napoleons letztlich erfolglosem Krieg 1810 gegen Russland verknüpft wird. Auch Herzog hat die ursprünglichen vier Stunden Spieldauer nochmals reduziert. Er sieht die Einflüsse der Entstehungszeit des Romans um 1860 ebenso wie die politische Situation von 1941 beteiligt, als Hitler seine Armee die UdSSR überfallen ließ und die sowjetischen Kader von ihren Künstlern bedingungsloses vaterländisches Engagement einforderten.

Glücklicherweise konzentriert Herzog seine Einordnung der tragischen Auswirkungen machtpolitischen Kalküls im napoleonischen Krieg auf die Individuen und überlässt zeitgenössische Zitate wie Stasibüro-Möblierung und sowjetische Einheitsmode der Nachkriegszeit der Kostümbildnerin (Sibylle Gädeke) und den Requisiten. Diese kluge Fokussierung wird vom geschickt konzipierten Bühnenbild (Mathis Neidhardt) unterstützt, dessen abgenutzt schwarzen Wände schnell zu neuen Spielräumen zusammengedreht werden können und so zum Ballsaal eines Adelspalasts werden, ebenso wie zur reich bebilderten fürstlichen Ahnengalerie. Dort öffnet sich der Blick in den bewaldeten Landsitz, verbirgt sich die umfangreiche Sammlung eines Waffennarrs, grüßen Portraits von Mussorgski und Gagarin von den Wänden, Prokofjews großes Photo schmückt ein Klavier. Herzogs Regie erreicht gerade im Kammerspiel der Hauptfiguren mit ihren Liebeswirren und Sinnkrisen eine anrührende Genauigkeit, gibt aber auch den Volksszenen der Moskauer Massen oder französischen Soldaten im zweiten Teil bestechende Wucht und theatralische Größe.

Schon im ersten Philharmonischen Konzert hatte Joana Mallwitz, neue Generalmusikdirektorin der Staatsphilharmonie, mit symphonischen „Erstlingen“ (auch Prokofjews Classique) beeindruckt. In der Vielzahl von Stimmungen, die die Oper durchfluten, motivierte sie das in Höchstform spielende Orchester zu delikat aufregenden Abstufungen, die an elegisch-melancholische Sehnsuchtstöne von Prokofjews Romeo und Julia, die feurig-enthusiastischen Volkstänzen der Skytischen Suite oder die Ausmalung martialischer Kampf-Begeisterung aus Alexander Nevsky denken ließen.

Nach der Ouvertüre nahm gleich ein erster Höhepunkt die Zuhörer gefangen: Andrej, der Orientierung und Lebenssinn verloren hatte, ist bei den Rostows zu Gast. Die Begegnung mit Natascha weckt neuen Lebensmut und Hoffnung. Jochen Kupfer hatte den passend noblen, weichen und zugleich männlichen Gesangston für die tragische Rolle des Fürsten. Eleonore Marguerre gestaltete die Natascha mit herrlich leuchtender Sopranstimme, voller lieblicher Reinheit wie auch dramatischem Zugriff, wie er in den späteren Bildern gefordert wurde. Hochvirtuoses Temperament herrscht im zweiten Bild, das den ausgelassen feiernden Petersburger Hochadel vorführt, wo dekadente Offiziere durch putineske Kraftmeierei Aufmerksamkeit erhaschen wollen, französische Delikatessen zwischen Pariser Mobilar genossen werden, das bei der späteren Plünderung durch Napoleons Soldaten geraubt werden wird. Joana Mallwitz und die Orchestermusiker brachten die Feierlaune durch hinreißende Walzerseligkeit auf ihren Höhepunkt, wenn sich Andrej und Natascha verloben. Ein mitreißender Auftritt auch für die von Tarmo Vaask präzise einstudierten Chöre des Staatstheaters, die in Rollen des Adelspublikums ebenso faszinierten wie als Bauern und Soldaten in den späteren Kriegsereignissen. Die große Zahl weiterer Soloauftritte muss als bewundernswert gewürdigt werden, ebenso die Leichtigkeit im russischen Sprachidiom.

Andrejs Vater (knorrig und eigensinnig: Nicolai Karnolsky) stört das junge Glück, schickt seinen Sohn ins Ausland. Natascha wird vom jungen verheirateten Anatol (mit kraftvoll strahlendem Tenor: Tadeusz Szlenkier) verführt, löst die Verlobung. Erst durch das klärende Gespräch mit dem befreundeten Pierre (mit herrlich dunkel getönter tenoraler Ausstrahlung: Zurab Zurabishvili) erkennt Natascha die Zusammenhänge und ist tief beschämt: ein berührendes Duett durch Eleonore Marguerres Darstellung schwankender Seelenzustände.

Hatte die Inszenierung bis jetzt vor allem im fokussierte Kammerspiel der Hauptcharaktere beeindruckt, folgten nach Napoleons Einmarsch (in deftigem Spiel: Sangmin Lee) markant inszenierte Massenszenen, wenn am Ende des ersten Teils russische Volksmassen die hintere Bühnenwand durchbrechen und sich mit heroischem Gesang auf den Kampf einstimmen. Oder wenn die französischen Soldaten sich Mut ansingen, plündern, im leeren Moskau nach Frauen suchen und grausam Bürger hinrichten. Wenn am Höhepunkt die Häuserwände einstürzen, Pulverstaub durch das Parkett wabert und Moskau in Flammen steht. Die Franzosen werden geschlagen, aber auch Andrej wird schwer verletzt und in Nataschas Haus gepflegt. In einer atemberaubenden Szene finden beide zusammen. Eine kurze Euphorie lässt Andrej auf sein Glück hoffen, die Kraft zum Aufbäumen im traurigen Walzer mit Natascha finden, bevor er in ihren Armen stirbt.

An anderer Stelle hätte das Epos mit diesem Liebestod sein Ende gefunden. Prokofjew erfüllte jedoch Stalins Wunsch, mit einer patriotischen Heldenfeier zu schließen. Pierre findet in aufwühlendem Schlussauftritt Hoffnung auf Liaison mit Natascha und Soldaten- und Volkschor brillieren mit virtuos-bombastischem Hurra gegen den geschlagenen Feind. Es bleibt trotzdem ein sperriges Bühnenwerk, das in Nürnberg allerdings mit hochmotivierten Musikern und kluger Regie bleibenden Eindruck hinterließ.

****1