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Bizets "Carmen" in Essen
Gemetzel der Geschlechter

Diese Carmen verführt nicht, sie ist eine Vorgeführte. Regisseurin Lotte de Beer inszeniert Bizets Oper als Geschlechterdrama. Im Kampf zwischen Männern und Frauen geht allerdings das Individuelle verloren.

Von Ulrike Gondorf | 14.10.2018
    Carmen Opéra comique in vier Akten von Georges Bizet Musikalische Leitung: Sébastien Rouland Inszenierung: Lotte de Beer Bühne und Kostüme: Clement & Sanôu Licht: Alex Brok Choreinstudierung: Jens Bingert Kinderchoreinstudierung: Patrick Jaskolka Dramaturgie: Christian Schröder Auf dem Bild Kinderchor, Opernchor, Almas Svilpa (Escamillo) Foto: Matthias Jung Die Veröffentlichung ist nur dann honorarfrei, wenn die Bilder im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über das Schauspiel Essen bzw. die Theater und Philharmonie Essen GmbH verwendet werden. Kinderchor, Opernchor, Almas Svilpa (Escamillo)
    Kinderchor und Opernchor bei Bizets "Carmen" in Essen (Matthias Jung)
    Mit den berühmten Klängen der Ouvertüre öffnet sich der Vorhang. Auf der leeren schwarzen Bühne, als Silhouetten im Gegenlicht, eine Gruppe dunkel gekleideter Frauen, große Tücher tragen sie wie Schleier über dem Kopf.
    Plötzlich werfen alle Röcke und Kopftücher von sich, stehen da in roten Hosen und weißen Hemden und setzen sich Schirmkappen auf. Es gibt nur diese beiden Kostüme für alle Mitwirkenden in der Carmen-Inszenierung von Lotte de Beer, immer wieder werden sich im Laufe des Abends blitzschnell Männer in Frauen verwandeln und umgekehrt. Die Regisseurin setzt in Essen den Grundgedanken ihrer Inszenierung sofort ins Bild. Im Programmheft steht er auf der ersten Seite mit den Worten der Feministin Simone de Beauvoir. "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es".
    Auch ihre Carmen macht sich die Gesellschaft. Verhüllt wie eine Madonna tritt sie auf, da reißt ihr einer die Bluse herunter zum schulterfreien Carmenlook, ein anderer knotet ihr das Kopftuch um die Hüften, der Rock wird geschürzt, und Haltung und Gestik der Frau folgen dem Bild, das sie abgibt. Die Gesellschaft hat ihren Vamp. Oder ihre Marionette, wenn vor dem zweiten Akt die Frauen wie schlappe Gliederpuppen erst mal in Position gebracht werden müssen, weil sie als Animateurinnen im Amüsierlokal oder als Lockvögel für das kriminelle Geschäft gebraucht werden. Frauen, die gerade "die Hosen anhaben", machen dabei durchaus mit. Das unterstreicht die Regisseurin mit einer perfiden kleinen Szene im Kinder-Soldatenchor des ersten Akts. Natürlich stecken da viele Mädchen unter den Schirmkappen, aber eins wird geoutet: Blonde Locken fallen heraus und die ganze Gruppe stürzt sich auf die, die sie zum Außenseiter gemacht hat.
    Kampf aller gegen alle
    Die Regisseurin Lotte de Beer hat einen klaren – dabei sehr pessimistischen - auf Männer und Frauen. Der Stierkampf der Oper ist ihre Metapher für den Geschlechterkampf. Am Ende zeigt sie ihn tatsächlich als blutiges Gemetzel von allen gegen alle. Die Bilder sind eindringlich, aber das Konzept hat einen hohen Preis: als Individuen interessieren diese Figuren nicht mehr, sie lösen sich auf in die Rollen, die ihnen jeweils zugeschrieben werden, sie verlieren ihre Geschichte. Lotte de Beer instrumentalisiert sie, um eine These zu demonstrieren. Und so verliert der Abend rapide an Spannung und eigentlicher Dramatik.
    Musikalisch überzeugt der kanadische Tenor Luc Robert als Don José am meisten. Man merkt ihm die Erfahrung mit der Rolle an, die er im Moment auf vielen großen Bühnen verkörpert, die Vertrautheit mit der französischen Musik und Sprache. Er setzt viel Kraft ein für die Partie, aber er hat auch viel, und er steigert sich beeindruckend im großen Showdown, dem verzweifelten Mord aus Eifersucht. Da hat ihm Bettina Ranch als Carmen leider schon nicht mehr viel entgegenzusetzen. Ihr Rollendebut als Carmen kommt vielleicht zu früh für die dramatischen Steigerungen der letzten beide Akte. Den Anfang singt sie untadelig. Dass sie als Figur seltsam blass bleibt, liegt wahrscheinlich mehr am Regiekonzept als an der Sängerin.
    Am Pult der Essener Philharmoniker steht der französische Gastdirigent Sebastien Rouland. Das Flair und das Feuer der Musik von Georges Bizet trifft er gut. Aber man hat die Essener Philharmoniker auch schon präziser und tiefenschärfer erlebt.