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German Angst - oder: Was ist deutsch?
Von Joachim Lange / Fotos von Paul Leclaire Carl Maria von Webers Freischütz ist ein gut zweihundert Jahre altes Opern-Schmuckstück. Nach 1821 avancierte es zum Katalysator wachsenden und dann überbordenden nationalen Selbstbewusstseins. Heute dient es vor allem der entsprechenden Selbstreflexion als Projektionsfläche. Regisseur Jochen Biganzoli tritt mit seiner Neuinszenierung am experimentierfreudigen Theater in Lübeck erst einmal einen Schritt zurück und fragt nach dem Kern der Geschichte. Und nach dem Umgang mit dem Werk. Auf beide Fragen findet er mit einem in sich schlüssigen und spannend unterhaltenden Theaterabend souveräne Antworten. Auf die erste Frage lautet die Antwort schlicht und einfach: Angst. Dieses Wort hängt denn auch irgendwann als Schriftzug wie ein Logo über der ansonsten spartanisch leeren Bühne. Dort gibt es gleich zur Ouvertüre den ersten Coup. Während sich der Zuschauer noch fragen mag, ob man das Bühnenbild wieder einmal eingespart hat, stürzt aus dem Schnürboden ein Mann in Zeitlupe nach unten. Es ist keine Dummy, denn plötzlich bewegt er seine Hände, und schließlich sich selbst. Es ist ein Absturz. Dieses Auftaktbild eröffnet Assoziationen in Richtung Höllensturz, mindestens aber in Richtung Alptraum. Das Ganze hat nichts mit Jägerritualen und Bauernneid, Oberförster, Fürst und Eremit zu tun. Alles passiert heute. Und der Abstürzende - vielleicht ein Künstler im Konzertfrack - ist das Exempel. Seine aufmarschierenden und alsbald spottenden Kollegen geben ihm, der eh schon am Boden liegt, den Rest. Diesen "he, he, he"-Spott hat Weber so komponiert, dass es noch jedes Mal hängen bleibt. Mobbing in Opernform. Konkurrenz pur. Max nimmt diese Mühle der Leistungsdruckgesellschaft sichtlich mit. Klar, dass er nach Auswegen sucht. Hinzu kommt, dass er sich von (hier mal ausgesprochen selbstbewusst zupackenden Frauen, inklusive Agathe) auch sexuell überfordert fühlt.
Wie die Einsamkeit des deutschen Waldes den Herzschlag dieser Angst liefert, machen kurze Unterbrechungen deutlich. Immer da, wo sonst der originale Dialogtext von Friedrich Kind, mit dem sich die Sänger abmühen, peinlich nervt, hört man diesen Herzschlag als Hintergrundrauschen zu Videostreifzügen (Video: Konrad Kästner) durch einen atmosphärischen Wald. In der Wolfsschlucht wechselt Biganzoli zur zweiten Frage. Diesen Opernspuk serviert er als Mitmachtheater vom Feinsten. Die Wolfsschlucht ist kein realer, sondern ein imaginärer Ort. Ein Synonym des Verbotenen. Kilian (Steffen Kubach) ist so freundlich und gibt den charmanten Conférencier im Glitzeranzug. Er macht die Bühne und den Zuschauerraum (die durchgängige Bestückung mit Neonröhren imaginiert ohnehin eine Verbindung beider Orte) zu dieser Schlucht und uns Zuschauer zu nächtlichen Besuchern. Kilian übt zuerst das kollektive Zählen beim Kugelgießen mit uns ein und stiftet dann das Publikum zum ja eigentlich streng verbotenen Filmen und Selfiemachen an. Max und Agathe oder die Gefahren im deutschen Wald
Nach der Pause geht es vor allem um die Vereinnahmung der Hits vom Jungfernkranz und dem Jägervergnügen durch das deutsche Wohlbefinden. Im metaphorischen Biergarten zu Füßen von Aufstellern mit dem Bayreuther Festspielhaus, Papst Josef Ratzinger und Kanzlerin Angela Merkel, dem Eurozeichen oder Mehmet Ozil mit Pokal. Als Mitmachveranstaltung. Mit O-Tönen der Kanzlerin und dem Schwadronieren der Neu-Alternativen zur Rolle der Kultur. Wer Glück hat und günstig sitzt, kriegt schon mal ein Fläschchen Jägermeister oder ein deutsches Bratwürstchen vom "Auftrags-Griller", der ansonsten den Caspar gibt. Den seinerzeitigen Superhit vom Jungfernkranz gibt es erst nach bestandenen sechs Fragen eines Mustereinbürgerungstestes. Samt Refrain zum Mitsingen für alle, versteht sich. Der Jägerchor beginnt in Konzertaufstellung und endet in einer karnevalesken Gaudi mit Fantasiekostümen und roten Nasen. Johotralala. Hier sind weder eine Totenkrone, noch ein Försterbild, das von der Wand fällt, von Nöten. Die überhaupt als Frau ziemlich handfest selbstbewusste Freundin Agathes, Ännchen, singt die Ballade vom Kettenhund trotzdem. Agathe selbst ist zwar dauerdeprimiert, aber immerhin als Miss Germany ausstaffiert.
Für das Finale greift Biganzoli auf die Methode der Distanzierung zurück, mit der er auch seinen abschließenden Blick auf Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk in Lübeck schon geschärft hatte. Er macht es teilweise zu einer nahezu rein konzertanten Nummernfolge, bei der die Protagonisten vom Rang aus in Konzertoutfit singen. Dazwischen geschnitten sind eingespielte Straßenumfragen zum Thema des Abends: Angst. Wenn der Eremit (Minhong An) in der Maske des amtierenden Bundespräsidenten mit dem Grundgesetzt in der Hand vor einem Bundesadler schwebt, dann ist dieses symbolische Bild für Verfassungspatriotismus eine Pointe mit szenischem Witz und von wachsender gesellschaftlicher Relevanz. Musikalisch entfalten das Philharmonische Orchester unter Leitung des Lübecker Interims-GMDs Andreas Wolf und die Protagonisten einen Sog, in den sich die Unterbrechungen und neu geschriebenen Texte organisch einfügen. Der von Jan-Michael Krüger einstudierte Chor bewährt sich auch als Mob aus der bürgerlichen Mitte, wenn er Max bedrängt, seine Angstattacke mit Ferngläsern aus der Nähe begafft oder die Wolfsschlucht-Szene wie im Kino mit Popcorn und 3D-Brillen verfolgt. Die Verfassung als Pointe
Aus dem Ensemble ragt Tobias Hächler als Max heraus. Mit seinem jungendlich strahlenden und stets kraftvoll sicherem Tenor, der auch zu lyrischer Wärme fähig ist, spielt er den Bedrängten überzeugend. Maria Fernanda Castillo stattet Agathe mit edler Eloquenz aus und spielt sie als dauerdeprimiertes Pendant zu Max. Während Andrea Stadel als zupackend selbstbewusste Frau deren Freundin Ännchen gleichsam neu erfindet. Taras Konoshchenko ist ein überzeugend dunkel böser Caspar, Gerard Quinn ein nobler Fürst Ottokar und Lucas Kurt Kunze ein solider Erbförster.
Mit seinem beherzt entstaubten Freischütz trifft Jochen Biganzoli ins Zentrum aktueller Befindlichkeiten. Die Oper in Lübeck liefert dafür einen exzellenten musikalischen Rahmen. Das Premierenpublikum nahm sich die Freiheit gleich nach dem letzten Ton in ein eifriges Pro- und Contra einzusteigen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Video
Choreographie
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der Premiere
Ottokar, böhmischer Fürst
Cuno, fürstl. Erbförster
Agathe, seine Tochter
Ännchen, eine junge Verwandte
Caspar, 1. Jägerbursche
Max, 2. Jägerbursche
Eremit
Kilian, reicher Bauer
Brautjungfern
Kameramann
Stürzende
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